Das Erbe der DDR ist ambivalent. Und dies in vielerlei Hinsicht. Es gab einen verordneten Antifaschismus, aber er war da und nicht nur verordnet. Es gab einen verordneten Internationalismus, den zumindest manche für bare Münze nahmen. Es gab eine Staatszentriertheit, aber der Staat sah sich in der Pflicht. Ansätze für eine Zivilgesellschaft wurden unterdrückt, aber in den Belegschaften der Betriebe gab es gemeinschaftliche Selbstorganisation. Diese Ambivalenz muss niemanden wundern - bisher ist noch kein Gesellschaftssystem bekannt, das nicht ambivalent gewesen wäre.
Ich gebe auch zu, ein verordneter Internationalismus ist mir lieber als die ständige Liebäugelei mit rechten Sprüchen. Man spricht vom "vollen Boot" und verstärkt die Ängst
Ängste jener, die ihre Arbeitsplätze - entgegen alle Tatsachen - durch ausländische Mitbürger gefährdet sehen. Man sagt: "Kinder statt Inder!" und bedient bewusst das Gegröle "Ausländer raus!". Man macht den Reichen ungeheure Steuergeschenke für ihr globales Anlagespiel anstatt ihre Vermögen in die soziale Pflicht zu nehmen und lässt damit auch zu, dass die soziale Frage durch die "Rassenfrage" ersetzt wird. Man "behandelt" Asylsuchende bei Abschiebungen so, dass manche zu Tode kommen oder zwingt sie, in Länder zurückzukehren, in denen Folter und Mord drohen. Fast täglich wird so vorgeführt, wie verletzbar die Würde jener ist, die unter unsere Ausländergesetze fallen.Bei der heutigen Politik fällt es oft schwer zu trennen, wo sie selbst schuldig wurde und wo sie rechtsradikale Gewalt und rechtsnationalistische Einstellungen aktiv bekämpft. Ich habe das sichere Gefühl, dass auch dieser Kampf eine Art "verordneter" Liberalismus ist, denn das "Ausland schaut auf uns". Das Bild vom hässlichen Deutschen würde bedient, ausländische Investitionen und Fachkräfte blieben rar, der Standort und das Image Deutschlands seien gefährdet, höre ich, dabei habe man doch seit 50 Jahren an beidem so hart gearbeitet.Und dann kommt immer wieder der Verweis auf das autoritäre Erbe der DDR. Ein richtiger Verweis, nur völlig falsch verstanden. Da dieses Erbe eine Tatsache ist, hätte man es auch ernst nehmen müssen. Wenn die DDR-Gesellschaft staatsfixiert war, dann tun Politik und Staat nicht gut daran, sich zurückzuziehen und auf das spontane Sprießen von Märkten und einer Zivilgesellschaft zu hoffen. Wenn die DDR "Sinn" verordnete, dann ist es genauso bequem wie falsch, heute die Sinnfrage als unsinniges Gerede abzutun und an Privatleute zu verweisen. Wenn DDR-Sozialisation gerade über die Schule funktionierte, dann ist es völlig falsch, Klassen ständig zu vergrößern, die Unterrichtsbelastung der Lehrer zu erhöhen und das Freizeitangebot an den Schulen zu verringern. Wenn die DDR viele ihrer soziokulturellen Probleme über das Arbeitskollektiv löste, dann kann man doch nicht einfach jene Mittel, die früher von den Betrieben aufgebracht wurden, einsparen, sondern muss für Sozialarbeit nun große staatliche Mittel aufwenden. Das MfS hat die Rechten gut beobachtet. Wieviel gut bezahlte Staatsbeamte stehen heute für die harte Arbeit mit Jugendlichen aus der rechten Szene zur Verfügung? In Ahlbeck, wo ein Obdachloser zu Tode getreten wurde, hatte man einen Seemann eingestellt, da für einen ausgebildeten Sozialarbeiter das Geld fehlte. Das Begräbnis des Obdachlosen war sicher billiger.Wenn man 1989/90 im Westen überhaupt etwas von der DDR wusste, dann bezog sich das auf deren autoritäres Erbe und die an den Staat gerichtete Erwartungshaltung der Bürger. Bei der Wahl vom März 1990 kam letzteres der CDU und Helmut Kohl zugute, die in dieser Hinsicht - ganz bewusst - das Erbe von SED und Erich Honecker antraten. Sie versprachen, es werde keinem schlechter gehen - dann jedoch grassierten Arbeitslosigkeit und Selbstwertverlust. Wohlstandsgewinn wurde mit der Abwertung zum Deutschen zweiter Klasse bezahlt. Vor allem aber zog sich der Staat aus der konkreten Lebenswelt der Menschen zurück. Der Abschnittsbevollmächtigte - den jeder kannte, der jeden kannte - verschwand. Viele kulturelle Einrichtungen wurden geschlossen. Die Kommunen verarmten. In vielen ländlichen Gegenden des Ostens sind heute Tankstellen einziger Ort für Kommunikation. Selbst die Kneipe im Dorf ist verschwunden. Und die Schulen, oftmals ein letztes Refugium, in dem der Staat noch anwesend ist, befinden sich oft in einem miserablen Zustand.Wenn es richtig ist, dass die DDR in der ostdeutschen Gesellschaft ein autoritäres Erbe hinterlassen hat, dann war es falsch, wenn der Staat aus genau dieser Gesellschaft desertiert ist. Denn die rechten Milieus versuchen, dieses Vakuum zu füllen. Sie gerieren sich als Ersatzstaat, geben Selbstwertgefühle, Sinn und Maßstäbe vor. Gerade weil es dieses autoritäre DDR-Erbe gibt, ist der Staat in einem erheblichen Maße als Kulturstaat gefragt. Als Staat, der die Würde des Menschen vor Verletzung schützt und dabei nicht nach Hautfarbe und Pass unterscheidet. Als Staat, der Arbeitsplätze schafft.Wer ein autoritäres Erbe antritt, muss ihm gerecht werden. Wenn der Osten anders ist, dann muss im Osten auch anders gehandelt werden - nicht nach westlichem Maß, was auch immer das heißen soll. Die gigantischen Geldtransfers in die Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung, in Frührente und Arbeitslosigkeit, eine große Solidaritätsleistung der westdeutschen Steuerzahler, haben dies Versagen der westdeutschen Eliten nur bemäntelt. Und dieses Versagen ist nicht der dahingeschiedenen DDR, sondern der verantwortungslosen Flucht von Politik und Staat aus jener Verantwortung anzulasten, die mit dem realen Erbe der DDR verbunden war.
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