Eine klassenlose Gesellschaft ist ausgerechnet die Mafia nicht. Oder besser gesagt die Cosa Nostra, wenn man diesen US-amerikanischen Zweig des organisierten Verbrechens aus Gründen der Unterscheidung so nennen möchte. Sowieso, man muss vorsichtig sein, die Begriffe gehen immer ein bisschen durcheinander. Oben die Bosse für die Profite, unten das Fußvolk für die Drecksarbeit, das gesellschaftspolitische Modell verträgt sich bestens mit dem des Kapitalismus und ist egalitären, gar sozialistisch-kommunistischen Anfechtungen gegenüber völlig immun.
Was auch ein offenes Geheimnis ist: Das FBI unter J. Edgar Hoover interessierte sich lange sehr lautstark nicht für das Treiben der Cosa Nostra. Mit dem Erlegen von spektakulären Einzeltäte
ltäterikonen wie John Dillinger, Bonnie und Clyde oder Babyface Nelson und später mit der Hatz auf „Kommunisten“ war schließlich mehr politisches Kapital zu erwerben. Der Streit mit Organisationsformen, deren Struktur und Agieren doch sehr deutliche Analogien zum ganz normalen Wirtschaftsleben aufwiesen, galt stattdessen als keine gute Anlage.Statt Haftstrafen: ItalienAußerdem hatten die USA ihre politische Unschuld in Bezug auf die Cosa Nostra (falls man von Unschuld sinnvollerweise überhaupt reden kann) ohnehin schon verloren, als der Marine-Geheimdienst 1942 einen Pakt mit Lucky Luciano geschlossen hatte, demzufolge die „Ehrenwerte Gesellschaft“ die Hafenanlagen von New York vor potentiellen deutschen Sabotageakten sichern sollte, was sie auch mit ihrer local knowledge und effizienten Methoden pa-triotisch einwandfrei erledigte. Luciano, der eigentlich eine dreißigjährige Haftstrafe verbüßen sollte, wurde 1946 mit erklecklichen Vermögenswerten nach Italien entlassen – oder abgeschoben, je nach politischer Lesart.Ein Foto vom edel gewandeten Luciano finden wir in Gian Carlo Fuscos spannendem Bändchen Die Unerwünschten. Als Amerika die Mafia nach Hause schickte – als Kontrast und damit auch als Programm. Ausgewiesen respektive abgeschoben nach Italien wurden aus den USA in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein paar hundert Menschen, denen man die Mitgliedschaft in der Cosa Nostra unterstellte und die keine amerikanischen Staatsbürger, sondern vielmehr „illegal aliens“ waren. Keineswegs schickte „Amerika die Mafia nach Hause“, dieser Untertitel ist leider grober Unfug. Unter den nach Italien verfrachteten kleinen Ganoven und Gelegenheitsmördern befand sich kein einziger „Boss“, kein mittleres Management, kein für die Geschäfte in den USA unabdingbarer Funktionsträger oder Spezialist. Und Italien war schon lange nicht mehr das Zuhause für die amerikanische Mafia, die dank kreativer Köpfe wie Lucky Luciano (auch er kein klassischer „Mafioso“ im italienischen Sinn, weil kein Sizilianer) schon längst zusammen mit jüdischen Gangstern wie Meyer Lansky Kartelle der multiethnischen Art geschaffen hatten.All das macht aber Fuscos Buch umso spannender. Denn er interessiert sich eben nicht für die big names und den Glamour, noch nicht einmal allzu sehr für die politischen Bande, die la Cosa Nostra schon immer mit Italien verknüpften, seit Vito Genovese der persönliche Drogendealer und Mord-Beauftragte des angeblichen „Mafia-Jägers“ (so lautete die Propaganda) Benito Mussolini war.Gian Carlo Fusco (1915-1984, Journalist und Schriftsteller) schaut sich statt unklarer politischer und wirtschaftlicher Strukturen lieber die Menschen an, die man so einfach in Italien aussetzte. Ohne Geld, ohne Jobs, ohne Beziehungen, nicht unbedingt in ihren Heimatorten, wo sie sozial leichter auf die Füße hätten kommen können. Ein verzweifelter Protestmarsch der „Unerwünschten“ in Rom im Jahr 1951 versuchte noch einmal, auf die Schicksale aufmerksam zu machen, dann verlieren sich ihre Spuren. Eine klitzekleine, nicht besonders bemerkenswerte Fußnote der Geschichte.Kleine Lügner und BetrügerSolche Fußnoten sind genuiner Stoff für Literatur, die einen anderen Blickwinkel hat als die große Historie und – im Falle der Mafia – die Mafia-Folklore. Wobei der Nimbus „Mafia“ selbst noch das Interesse an ihren Marginalien trägt: „Die Geschichten der Mafiosi treffen den Geschmack der braven Christen“, weiß ein abgehalfterter Killer, den Fusco in Palermo aufstöbert, wo der sich mit der Herstellung von Speiseeis über Wasser hält. Fusco nutzt den Massengeschmack aus, um eine ganz andere Sicht von „Mafia“ zu bieten als die, die Mythen aus dem Kino und anderen massenmedialen Verarbeitungen allmählich aufbauen. Fuscos Ex-Mafiosi sind Bettler, heruntergekommene Asoziale, die lügen und betrügen, für ein paar Lire.Frank Frigenti, der „ganghestér“, zum Beispiel. Wobei ganghestér das phonetische Äquivalent eines eigenartigen italo-englischen Sprachmixes ist, mit neapolitanischen, kalabresischen oder sizilianischen Beimischungen, das sich, sehr einfallsreich und originell von Monika Lustig übersetzt, auf Deutsch noch bizarrer liest, als es eh schon ist. Nur hin und wieder kommen Zweifel auf, ob etwa die „Anonyme Mördergesellschaft“, die manchmal auftaucht, nicht einfach „Murder Inc.“ sein soll, also die von Albert Anastasia und Lepke Buchalter geleitete finale Innenrevision des Mobs.Zurück zu Frigenti, dem verkommenen Gauner. Ein „braver Profiarbeiter der Gewalt auf der Suche nach einem ehrlichen Altersgeld“, wie seine Kollegen, die Fusco maliziös schildert, beziehungsweise eher demontiert: „Dickfleischige Ohren, gewellt und gekräuselt nach Art von Schwarzkohlblättern, ragten wie Topfhenkel von den kahlen, verbeulten Köpfen, die einem Studiosus wie Cesare Lombroso zur Freude gereicht hätten. Ihre Leiber unter den zerknautschten Regenmänteln und abgewetzten Wolljankern wirkten, als hätte man die Luft aus ihnen gelassen. Ihre fleischlosen Hälse reckten sich in die Höhe.“Uomini d’onore ohne WürdeSelbst vor dem Verweis auf die Verbrechens-Physiognomie von Lombroso, die in der Kriminalistik des 19. und 20. Jahrhunderts viel Unglück angerichtet hat, schreckt ein aufgeklärter Geist wie Fusco nicht zurück, wenn es darum geht, den Mafiosi jede Art von Würde und Ehre wegzuschreiben, in deren Namen sie als „uomi d’onore“ andere Menschen terrorisiert und getötet haben. Frigenti schließlich verkloppt Mafia-Dönnekes für ein paar tausend Lire.Gian Carlo Fusco, den man wegen seiner investigativen Arbeit zum Thema den „Philologen des Verbrechens“ nannte, kannte und mochte das „malavita“ der Halbwelt, der schrägen Typen, der Barflies, Nachteulen und Huren. Er stand auf der Seite der Ausgestoßenen und Außenseiter, mit richtigen Gangstern legte er sich auch persönlich unter Gefahr für Leib und Leben an. Große Sympathien für die „Unerwünschten“ hat er nicht. Aber er betrachtet sie genau und und formt so ihre Geschichten zu wunderbaren, kleinen Prosaminiaturen – über die Blutrache, die nach 30 Jahren noch zuschlagen kann, über sozialen Abstieg, über das Verblassen und Verschwinden von Menschen, über den banalen Kleingangster-Alltag in La Merica, in einer gnadenlos sozialdarwinistischen Gesellschaft. Das sind neun Porträts plus ein (fiktives) Selbstzeugnis, paradoxerweise anteilig mehr über das Leben der Menschen in Amerika als in Italien. Von dort waren sie in die Neue Welt aufgebrochen, die sie wieder zurückexpediert hat, aber von Amerika haben sie ihre Geschichten und Mythen mitgebracht, die Fusco zu einem wichtigen Stück italienischer Literatur verwandelt. Migration gibt es gerade auch in Texten.
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