Am 20. Oktober 1999 zeigte sich einmal mehr, dass in der indonesischen Politik nichts kalkulierbarer ist als die Unberechenbarkeit. Die als unermüdliche Streiterin für Demokratie hochgejubelte Tochter des Staatsgründers Ahmed Sukarno, Megawati Sukarnoputri, wurde bei der Präsidentenwahl im Zielfinish von Abdurrahman Wahid überholt: Dessen Sieg erfolgte auf den Trümmern einer über 30jährigen Diktatur: Da gestaltet sich jeder Neuanfang einer zivilen Ordnung schwierig, zumal das vormals dominante Militär zwar einen Teil seiner symbolischen, keineswegs aber an realer Macht eingebüßt hat.
Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen der Krise, auf deren Höhepunkt Suharto im Mai 1998 zurücktrat, sind verheerend. Noch
end. Noch kurz zuvor hatten die Weltbank und der IWF Jakarta als Neuankömmling im Klub der »Tiger der zweiten Generation» gefeiert und seinen Wirtschaftskurs als außerordentlich erfolgreich gewürdigt. Doch dann geriet das Wirtschaftsleben aus den Fugen: Nirgends zuvor hatte eine derart rasante Pauperisierung so viele Menschen ins Elend gestürzt wie in diesem mit über 210 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten und größten Staat Südostasiens.Das jährliche Prokopf-Einkommen sackte binnen weniger Monate von etwa 1.000 auf weniger als 300 US-Dollar ab. Die Preise für Grundnahrungsmittel schnellten in die Höhe, Reis musste wieder importiert werden. Die Landeswährung Rupiah wurde zum Monopoly-Spielgeld, das seit Frühjahr 1997 auf umgerechnet 65 US-Cents pro Tag festgesetzte Lohnminimum blieb eingefroren, und die Zahl der Arbeitslosen erreichte Rekordhöhen. War zwischen 1970 und 1996 laut Weltbank die Zahl der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung von 60 auf 11 Prozent gesenkt worden, so kehrte sich dieser Trend im Zeitraffer wieder um. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt nach Schätzungen indonesischer Wirtschaftsexperten heute wieder jenseits der Armutsschwelle.Wenngleich der Präsident wichtige Umbesetzungen und Verjüngungen an der Spitze der Streitkräfte erwirkte und gegen einige ihrer Offiziere sowie Mitglieder des Suharto-Clans wegen Menschenrechtsverletzungen beziehungsweise Korruption und Veruntreuung von Staatsgeldern ermitteln lässt, verfügen die Repräsentanten des Ancien régime über ein Arsenal offener und verdeckter Destabilisierungsmethoden. Erst jüngst wurde auf das Büro des Generalstaatsanwalts ein Bombenanschlag verübt, hinter dem Parlamentsvorsitzender Akbar Tandjung und Verteidigungsminister Juwono Sudarsono sofort gedungene Schergen des Suharto-Clans vermuteten.Ein für Wahid in dieser Situation besonders heikles Thema ist die Aufarbeitung der Geschichte, vor allem der Umstände, die 1965 zum Putsch und in dessen Folge zu einer systematischen, langjährigen Hatz auf vermeintliche und tatsächliche Kommunisten führten (siehe Beitrag auf dieser Seite) Die damals weltweit drittstärkste kommunistische Partei, die PKI, ist nahezu physisch liquidiert und ein Großteil der Gesellschaft schwer traumatisiert worden. Während der nächsten ordentlichen Parlamentssitzung im August soll das Thema zur Sprache kommen. Ein Streit ist programmiert; selbst Wahids einstiger politischer Weggefährte, der jetzige Präsident der Beratenden Volksversammlung, Amien Rais, hat Widerspruch signalisiert.Als sei all das nicht schon genug, erwachsen der Wahid-Regierung gleich in mehreren Regionen des Archipels zusätzliche - sezessionistische - Probleme. Seit dem Amtsantritt des Präsidenten halten Unruhen, Hungerrevolten, Plünderungen, gewaltsame politische, interethnische und -religiöse Auseinandersetzungen an. Vor allem auf der östlich von Bali gelegenen Insel Lombok, in Aceh (Nordsumatra), Irian Jaya (Westpapua), Südsulawesi, Riau (Ostsumatra) sowie auf Maluku (Molukken) kommt es immer wieder zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen widerstreitenden Gruppen der örtlichen Bevölkerung oder zwischen den militärischen Repräsentanten des indonesischen Zentralstaats und regionalen Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegungen.Seit den ersten Gewaltausbrüchen Anfang 1999 sind allein auf den Molukken annähernd 5.000 Menschen getötet worden. Knapp eine halbe Million Personen befinden sich auf der Flucht. Als Drahtzieher der Gewalt erweist sich in den meisten Fällen die notorische paramilitärische islamische Gruppe Laskar Jihad - oft unterstützt von »Schurken« (so Verteidigungsminister Sudarsono) aus den Reihen der Streitkräfte. Der Konflikt speist sich weniger aus religiösen Differenzen zwischen Muslimen und (protestantischen) Christen als vielmehr aus früheren wirtschaftspolitischen Maßnahmen Jakartas. Die ursprünglich auf den Inseln ansässige und von den niederländischen Kolonialbehörden christianisierte Bevölkerung sieht sich zunehmend bedrängt von zugewanderten Muslimen, die ihr den Boden streitig machen - ein Resultat der von Jakarta ehrgeizig verfolgten »Transmigration», um der Übervölkerung vor allem auf der Hauptinsel Java entgegenzuwirken und zugleich die Kontrolle des Zentralstaates in der Peripherie zu verstärken.Zehn Monate nach seinem überraschenden Wahlsieg steckt Wahid in einem fast unauflöslich wirkenden Dilemma: Während er im Gegensatz zu seinen Vorgängern auf friedliche Verhandlungen und politische Konfliktlösungen unter Einbindung zivilgesellschaftlicher und säkularer muslimischer Gruppen setzt, befürchten Militärs, der Einheitsstaat könne zerfallen und im Chaos versinken. Kein Wunder, dass in Jakarta die Gerüchteküche brodelt und die Unsicherheit bei Bevölkerung und Regierung in dem Maße wächst, wie sich das Militär als letztinstanzliche Ordnungsmacht in Szene setzt. Der Präsident weiß, dass er in diesen prekären Zeiten nicht auf Dauer gegen das Militär, dieses allerdings sehr wohl ohne ihn regieren kann.