Was Darwin ärgerte, heftchenweise

Ausstellung In der Wahrnehmungsschule: Olaf Nicolai seziert in Münster den Pfau, spielt mit ideologischem Schutt und unterzieht die Imagination der Besucher einer Reifeprüfung
Schwere Brokatvorhänge mit eingewebtem Pfauenmuster teilen den weiten Raum. Nur warum sind sie grau?
Schwere Brokatvorhänge mit eingewebtem Pfauenmuster teilen den weiten Raum. Nur warum sind sie grau?

Foto: Thomas Wrede/Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin

Wer die Münsteraner Kunsthalle das erste Mal besucht, verirrt sich leicht auf der Suche nach den Räumen im Obergeschoss des ehemaligen Speichergebäudes. Die Besucher sind damit bestens auf die Verwirrspiele vorbereitet, die Olaf Nicolai aktuell dort ausstellt. Einen barocken Titel hat der Leipziger Künstler, seit 2011 auch Professor für dreidimensionales Gestalten in München, für seine Schau gewählt: The peacock with his long train appears more like a dandy than a warrior, but he sometimes engages in fierce contests. Darwin, dem diese Zitat entlehnt ist, schlug sich zeitlebens mit dem Pfau herum, dessen opulentes Gefieder nicht in seine Evolutionstheorie passen wollte. Ähnlich verhält es sich mit den Werken von Olaf Nicolai, die zumeist auf eine Unverträglichkeit zu den eingeschliffenen Wahrnehmungsmustern hin komponiert sind.

Schwere Brokatvorhänge mit eingewebtem Pfauenmuster teilen den weiten Raum, die triste graue Farbgebung sorgt für die erste Irritation: Gerade diese für den evolutionären Überlebenskampf so nutzlose Farbenpracht war es doch, die Darwin aufstieß. Spitzfindig weist Nicolai darauf hin, dass Pfauenfedern eigentlich grau seien, erst der Lichteinfall setzte das Farbenspiel in Gang. Diesen Prozess friemelt er auseinander: Dem Pfau hat er die Farben entzogen und in 400 Heftchen drucken lassen, die auf Paletten gestapelt in jenen Separees ausliegen, die sich durch die Teppichhängung ergeben. Auf den ersten Blick sieht ein Heft dem anderen zum Verwechseln ähnlich, doch – Pfauenauge sei wachsam! – bei genauerer Betrachtung fallen nuancierte Unterschiede auf, die sich aus dem verwendeten Irisdruckverfahren ergeben. Diese historische Drucktechnik lässt die drei Grundfarben Yellow, Magenta und Cyan auf jeder Druckbahn unterschiedlich ineinander laufen. Jeder Bogen wird so einzigartig, was der Grundidee der Reproduzierbarkeit beim Drucken entgegensteht.

Herumtreiben an den Wahrnehmungsgrenzen

Man sieht, Nicolais kleine Wahrnehmungsschulung wuchert schnell aus zu einem Geflecht politischer, wahrnehmungsphysiologischer und medientheoretischer Bezüge. Ständig nötigt er den Betrachter, hinter die als sicher angenommenen Voraussetzungen der Wissens- und Handlungsorganisation zurückzugehen. Der Teppich im leichtgrauen Industriedesign etwa wird als Bestandteil der Einrichtung wahrgenommen, bis man ihn im Prospekt unter dem Titel Baku als Teil der Rauminstallation entdeckt.

Dieses Schärfen der Sensoren, ein Herumtreiben an den Wahrnehmungsgrenzen vereint Olaf Nicolai mit seinem Bruder Carsten. Hinter dem Malerstar Neo Rauch bilden sie die zweite Reihe des Leipziger Galeriemärchens Eigen + Art. Die Gebrüder Nicolai sind längst Teil des popphilosophischen Diskurses. Slavoj Žižek etwa steuerte einen Text zu Olafs Künstlerbuch Rewind/Forward bei. Was ihn an Nicolai interessiert, kann in Münster an À la cantonade nachvollzogen werden, in dem der Pfau mehr Kämpfer als Dandy ist: Dem ungarischen Film Agitatorok von 1969, der die Oktoberrevolution kritisch diskutiert, entzieht Nicolai das Bild und versieht ihn mit einem englischen Audiokommentar. Dieses Spiel mit ideologischem Schutt und der Imagination der Zuschauer ist eine Reifeprüfung selbst für diejenigen, die problemlos durch das Treppenhaus gefunden haben.

The peacock with his long train appears more like a dandy than a warrior, but he sometimes engages in fierce contests , Kunsthalle Münster, bis 30. September 2012

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