A-Z Verlorene Dinge Der Fortschritt kann nicht jeden mitnehmen. So kommen mit den Jahren Sachen abhanden, deren Verlust wir bedauern. Unser Lexikon erinnert an einige von ihnen.
Aschenbecher Beim Gedanken an Aschenbecher wird sicherlich so mancher nostalgisch. Gut, in manchen Kneipen ist das Rauchen noch erlaubt, aber in Clubs und bei Konzerten dominiert seit Jahren statt blauem Dunst der Geruch von Turnhallen. Bei aller möglichen Gesundheitsgefährdung: Die Zigarette hat auch ihr Gutes. Es ist zudem viel schwerer geworden, mal einen Aschenbecher als spontanes WG-Mitbringsel zu zocken, weil sie nicht mehr überall herumstehen. Dafür müssen dann heute Rauchverbotsschilder herhalten.
Richtig absurd wird das Fehlen von Aschenbechern und Zigarettenqualm bei Konzerten härterer Gangart. Da singt eine Punkband vom rebellischen Leben, das die Spießer auf die Hörner nimmt, und keiner pafft? Black-Metaler beschören Satan, den Antic
pafft? Black-Metaler beschören Satan, den Antichrist und alle Schwefelhöllen auf einmal – und trotzdem bleibt die Fluppe aus? Das Rauchverbot macht das ganze Konzerterlebnis kaputt, da muss man ja am Unbehagen an der Gegenwartskultur leiden. Tobias PrüwerBBundespostminister Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen, ein Behördenname so schön und schrecklich wie eine abgewetzte Aktentasche. Man denkt an nikotingelbe Bürodecken und schweren Fleischgeruch in der Kantine. Die Briefträger in ihren zerknautschten Uniformen fluchten vielleicht über das Wetter, aber nicht so sehr über das strenge Zeitdiktat. Große Pakete? Gab es hauptsächlich zu Weihnachten. Kein Amazon, kein Zalando, keine unterbezahlten Servicemitarbeiter, die die Stufen hochhetzten und hektische Piepsgeräusche machten mit ihren Scangeräten.Und über allem wachte der Bundespostminister. Der war nie ein Karrierist, nie ein möglicher Kronprinz des Kanzlers. Das waren Leute wie Christian Schwarz-Schilling oder Wolfgang Bötsch – Aktentaschenträger. Am 1. Januar 1998 ging der Bundespostminister in Pension. Und zwar für immer. MSCClub Freakshow Unweit vom Potsdamer Platz befand sich der Club Tresor. Hier wurde Techno gespielt – heute eine von vielen Musikrichtungen, in den Neunzigern auch ein Lebensgefühl. Ich erinnere mich an jene Sonntage nach der Loveparade, an denen wir uns zum Tresor schleppten, um einem stundenlangen DJ-Set von Sven Väth beizuwohnen. Die Partys fanden im Brachland vor dem Club statt und waren eine bizarre Freakshow. Die meisten hatten mehrere Nächte nicht geschlafen, Drogen konsumiert und lungerten im Gras oder Geröll herum.Niemand außerhalb der Techno-Bewegung vermochte sich vorzustellen, was damals wirklich los war. Wir teilten eine Art Geheimwissen, im Alltag erkannten wir uns an Kleidung und Habitus, in jeder größeren Stadt gab es legendäre Clubs. Und wir hatten damals Rainald Goetz, der über uns schrieb. Aber Techno als Lebensgefühl ist längst verpufft. Partyhedonismus ist schließlich kein Alleinstellungsmerkmal mehr – und die Brachen am Potsdamer Platz sind mittlerweile auch total verbaut. MHHHandball-Adidas-Spezial-Schuh Als Kind hatte ich einen ausgewachsenen Schuhfetisch. Mein Objekt der Begierde war der Adidas-Handball-Spezial in blau. Der Schuh kostete satte 119 D-Mark, war aber auch eine echte Sensation: schlank, schmal, leicht; der Tragekomfort erinnerte an Barfusslaufen auf Waldboden, die flache Form verlieh ihm Ernsthaftigkeit und Anmut.Mitte der Neunziger stoppte Adidas urplötzlich die Spezial-Linie. Es war, als hätte ich einen Arm verloren. Ein Jahr später kündigte die Firma eine Wiederauflage an. Ich wollte vor Dankbarkeit nach Herzogenaurach pilgern. Umso größer die Enttäuschung: Der neue Spezial war ein klobig-vulgärer Abklatsch des Originals, mit neumodischen Features wie der von Joggingschuhen her bekannten übertriebenen Sohlenverjüngung im Mittelfußbereich. Es war, wie einen Dry Martini zu bestellen und einen Martini Bianco zu bekommen. Kurz darauf beendete ich meine Handballkarriere. MKHausbesuche des Arztes Zugegeben, sie sind nicht vollkommen aus der Welt verschwunden, aber sie sind so selten geworden wie autofreie Sonntage: die Hausbesuche des Hausarztes. War es nicht früher normal und durchaus üblich, dass der Kinderarzt zur Familie nach Hause kam und die Kinder mit sehr hohem Fieber oder ansteckenden Krankheiten daheim untersuchte? Klar, es gibt Notarztsysteme und die 112 für Notfälle, aber für minder lebensbedrohliche Fälle müssen wir uns in überfüllte Praxen begeben, in denen man sich statt Heilung oft neue Krankheiten holt. Man hockt auf unbequemen Stühlen zwischen hustenden Mitpatienten und blättert in zerlesenen Ausgaben der Apotheken Umschau, während sich das eigene Kind auf die Jacke der Nachbarin erbricht. Oder man muss draußen vor der Tür warten – im Winter! –, da die beschriebenen Symptome auf starke Ansteckungsgefahr deuten. Kurz: Ich wünsche mir meinen Feld-Wald-Wiesen-Doktor von früher. OHJJahreszeiten Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Rudi Carrells Lied ist heute nicht weniger zutreffend als 1975. Carrell war seiner Zeit voraus, das Wetter schlug damals noch nicht solche Kapriolen, wie wir sie heute kennen. Wie schön das war: Der Kalender als feste Größe garantierte Schnee an Weihnachten und Hitze im August. Alles so, wie es sich gehört, es gab nicht nur ein paar heiße Tage im April, übergangslos ohne vorherigen Frühling – und das war es dann schon mit Hitze für das Jahr. Wie soll man Kindern eigentlich noch die Jahreszeiten erklären? Wir kennen die Abfolge, Körper und Geist haben verinnerlicht, dass das Jahr in „meteorologisch deutlich voneinander unterscheidbare Abschnitte“ unterteilt ist. Wirklich? Ich will Herbstblues und Frühlingshoch, und zwar dann, wenn der Kalender es vorsieht. Aber letztlich sind wir anpassungsfähig, schieben uns Ostern den Schokohasen in den Mund und legen uns anschließend in Shorts und Bikinitop auf die Terrasse. JZ Juniortüte von McDonald’s Hier steckt das Kinderglück schon im Namen: Happy Meal. McDonald’s ist der Spezialist für Happiness, keine Frage, gerade bei Kindern. Und die machen 2012 offenbar folgende Menü-Komponenten glücklich: eine Bio-Apfeltüte, ein Gartensalat und ein Fläschchen Bio-Milch. Das ist natürlich alles Image-Quatsch. Jedes Kind, das auf sein Kindsein etwas hält, räumt die Apfelschnitzel auf die Seite, um zum Eigentlichen zu kommen: Pommes, Chicken McNuggets und Burger. Und welcher Knirps trinkt allen Ernstes Milch, wenn es Fanta und Sprite gibt? Bis 1999 hieß das Happy Meal noch Juniortüte. Schon damals wusste man, dass ein Hamburger mehr dem Wachstum in die Breite als in die Höhe dient, aber McDonald’s war eben kein Bio-Bauernhof. Der Fastfoodriese stand dazu und tat nicht scheinheilig vitaminreich. Eine Konstante von damals hat auch heute noch Bestand: das mitgereichte Schrottspielzeug. MSKKaffeeriecher 1780 monopolisierte Friedrich II. das Kaffeerösten. Um sicherzustellen, dass das Gesetz eingehalten wird, engagierte er Veteranen des Siebenjährigen Krieges als Kaffeeschnüffler. Und so zogen 400 Invaliden durch Berlin, um illegal gerösteten Kaffee aufzuspüren. Es war ihnen gestattet, jedes Haus zu betreten, jedes Zimmer und jede Person aufs Genaueste zu untersuchen. Sie berochen Tassen und durchwühlten Vorratskammern. Die Kaffeeriecher waren verhasst. Nur eine Berufsgruppe war noch verhasster: die Perückenkriecher. Denn auch Perücken wurden besteuert und durften nur mit einer besonderen Lizenz getragen werden. Die Perückenkriecher durften kraft des Gesetzes einem jeden das Haar vom Haupte reißen, um das Siegel zu überprüfen. Perückenkriecher und Kaffeeriecher sind ausgestorbene Berufe. Ebenso wie Lumpensammler, Lampenanzünder oder Urinwäscher. Von solchen verschwundenen Berufen handelt das Buch Von Kaffeeriechern, Abtrittsanbietern und Fischbeinreißern (C. Bertelsmann 240 Seiten, 19,99 Euro) der Journalistin Michaela Vieser. MKMMinidisk Wer hin und wieder damit zu tun hat, längere Passagen von gesprochenem Text erst aufzunehmen und dann abzuschreiben, kennt das: So gut wie alle Aufnahme-Verfahren – vom Diktiergerät über MP3-Rekorder bis zu Smartphones –, erlauben es nicht, während der Aufnahme „Lesezeichen“ zu setzen. Lesezeichen erleichtern das Auffinden bestimmter Passagen. Wer will schon durch das ewige Gerede spulen? Für den Minidisc-Rekorder, 1992 von Sony auf den Markt gebracht, waren Lesezeichen kein Problem. Das zigarettenschachtelgroße Gerät eignete sich dafür, Aufnahmen in Sendequalität zu erzeugen und abschnittsweise zu bearbeiten. Sony positionierte die MD gegen den I-Pod und andere MP3-Player. Im vergangenen Sommer wurde die Produktion eingestellt. Ralf GrötkerTTestbild „Geile Hausfrauen warten auf dich“ – wie bitte? Ach so, nur schon wieder vor dem Fernsehgerät eingeschlafen. Wer nicht spät nachts von Sexwerbung geweckt werden will, sollte seine Abendunterhaltung nach Sendern auswählen. Zu meinen Schulzeiten galt noch die Reihenfolge Programmschluss, Nationalhymne, Testbild. Man konnte wunderbar davor schlafen, es strahlte ein angenehmes Licht ab und piepte leise. Während meines Studiums gab es dann neue Formate wie das kontemplative „Aquarium“ oder die „S-Bahn Berlin“, bei der es einfach Spaß machte, zuzusehen und zu raten, wo in der Stadt man sich gerade befand. Das alte Testbild ist jetzt nur noch bei Sendestörungen zu sehen. Schade. JAZTomatenfisch-Paste Ein Geschmack fehlt mir seit dem Mauerfall. In der DDR gab es so eine – wahrscheinlich nicht gerade zusatzstofffreie – Paste aus Tomatenfisch, die ich mir liebend gern aufs Brot schmierte. Für gebürtige BRD-Bürger und Spätgeborene: „Tomatenfisch“ nannte man damals in Tomaten-Tunke schwimmende Filets von Makrele und Hering. Diese gibt es bis heute. Aber auch wenn man sie – ich habe den Selbstversuch gewagt – durch den Fleisch- respektive Fischwolf dreht, kommt das irgendwie nicht an den Geschmack der Paste heran. Ich vermisse übrigens auch die 2002 von uns gegangene Rock-Band Inchtabokatable, deren Lieblingslied hatte schließlich den schönen Titel: „Tomatenfisch“. TPWWählscheibentelefon Es gab eine Zeit, als Telefone zum Telefonieren da waren. Man konnte das Wählscheibentelefon nicht mit Daten füttern, es konnte keine Fotos machen, aber die Bedienung war denkbar einfach. Ferngespräche waren damals auch noch teuer und inhaltsleere Telefonate deshalb seltener als heute. OHZZeitungsjungen Gibt es in 20 Jahren noch Zeitungen auf Papier? Keiner weiß es. Der Blick zurück zeigt aber, dass das Medium sich schon immer verändert hat. Verloren gingen etwa die Zeitungsjungen, die auf den Straßen der Weimarer Republik die Schlagzeilen ausriefen. Der Siegeszug des Radios kostete sie den Job. Jan Pfaff
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