In den Gedenkartikeln zum 100. Jahrestag der Eröffnung von Grand Central wurde der andere große New Yorker Zentralbahnhof nur erwähnt: Pennsylvania Station, kurz Penn Station genannt. Erinnert wurde, dass man den neoklassizistischen Monumentalbau 1963 abgerissen und den Bahnbetrieb unter die Erde verlegt hatte, während oberirdisch der Madison Square Garden entstand, das öde Konstrukt einer verbrauchten Moderne.
Weiter wurde dem Verschwinden von Penn Station nicht nachgegangen, obwohl es Anlass dazu gibt. Denn das „gute“ Jubiläum verbreitet auch Genugtuung darüber, dass Grand Central nicht das Schicksal von Penn Station teilte. Sieger und Verlierer dieser Geschichte sind dadurch verbunden, dass Grand Central überleben konnte, weil Penn Stat
Penn Station geopfert wurde. Der Protest, der den Bau an der 34. Straße seinerzeit nicht retten konnte, erwies sich nachträglich nämlich als Wendepunkt in Sachen Stadtplanung – von der Kahlschlagmoderne zur postmodernen Bewahrung. Er war das urbanistische Pendant zu Rachel Carsons Buch Silent Spring, dem Startschuss der Umweltbewegung im Jahre 1962. Der Versuch, Grand Central später nach dem Schema von Penn Station zu „modernisieren“, scheiterte an geänderten Vorstellungen von Bewahrung und Lebensqualität.Jubiläen sind Überlebens- und Siegesfeiern. Das macht die 100-Jahr-Feier von Grand Central mit Veranstaltungen durchs Frühjahr hindurch zu einem voraussagbaren Non-Event. Interessanter ist, wie sich der Erfolg der Bewahrung ausgewirkt hat. Dass Protestbewegungen, wenn sie ihr Ziel erreicht haben, zum Stillstand kommen und diesen zu genießen suchen, ist ein verlässlicher Menschheitsmechanismus – und dass es nicht lange dauert, bis die nächste Generation zur Rebellion antritt, eine Binse. So steht Grand Central heute für die gleiche urbane Qualität New Yorks wie die beliebte High Line, die bis vor Kurzem ein vor sich hinrostender Hochbahnabschnitt war, oder wie Luxuslofts in Fabriketagen.Geister von morgenIm Verhältnis zum Jahre 1963 haben sich die stadtplanerischen Vorstellungen gravierend geändert. Penn Station, ist vor einigen Jahren entschieden worden, wird in seiner alten Monumentalität neu erstehen. Nicht als historische Kopie, wohl aber als Umwidmung des gegenüberliegenden Zentralpostamts, das einst im gleichen Stil errichtet worden war. Den Abriss des Bahnhofs hatte es unangetastet miterlebt, nun erfährt es die triumphierende Rückkehr des damals Verschwundenen am eigenen Leib. Wenn Gebäude fühlen könnten, müsste die bevorstehende Metamorphose das Postamt in einen Schwindelzustand, den Madison Square Garden in Agonie versetzen. Die Moral dieser architektonischen Rochade, dieses bodysnatching lautet, dass kein Gebäude sicher ist und kein Standort. Das ist ein lebendigeres und realitätsnäheres Programm als die brave Feier von 100 Jahren Grand Central.Vorstellbar wäre als Alternative zur Grand-Central-Feier also ein anti-jubilarisches Gedenken des Abrisses von Penn Station vor 50 Jahren. Es wäre zu erinnern an all das, was einst strahlte und heute allgemeiner Verdammnis anheimgefallen ist. Wie das Modernisierungsprogramm von Robert Moses. Der hätte es in drei Jahrzehnten als New Yorks Stadtplaner fast geschafft, Manhattan in ein vertikales Los Angeles zu verwandeln. Im letzten Moment und fast zeitgleich mit dem Abriss von Penn Station, verhinderte ein Bürgerprotest den von Moses geplanten Bau eines zehnspurigen Highways quer durch das heutige Soho.Mit diesem Misserfolg begann das Ende der Ära Robert Moses. Man ist versucht, beide Projekte – die geschleifte Penn Station und den nie gebauten Highway – in einer Hinsicht gleichzustellen: ihrer Nichtexistenz. Sie ist der große Egalisierer des in der Realität unversöhnlich Konträren. Als imaginäre lieux de mémoire und über der gebauten Realität schwebende Geister teilen sie uns mehr über die Vielschichtigkeit der Geschichte mit als die real geretteten, gepflegten und gefeierten Monumente.Unheimlich wird es, wenn man die Präsenz dieser Geister im neuesten New Yorker Hochbau spürt – dem Freedom Tower, der an der Stelle des vor zwölf Jahren verschwundenen World Trade Centers entsteht. Unheimlich deshalb, weil die Twin Towers, nur ein paar Jahre nach dem Madison Square Garden gebaut, bevor sie verschwanden, anderes zum Verschwinden gebracht haben. Das zerstörte Areal hieß im Volksmund Radio Row und war ein blühender kleingewerblicher Bezirk für Radiotechnik und elektronische Tüftelei.Der Freedom Tower soll offizielles Memorial des großen Verschwindens vom 11. September werden. Er könnte simultan ininoffizieller Erinnerungsort sein all der Großprojekte, die je in New York gedacht, geplant, gebaut und gestürzt worden sind.