Kaliningrad In der Exklave wird so viel Bernstein gewonnen wie nirgendwo sonst. Doch Misswirtschaft und Schmuggel verhindern, dass der Reichtum den Menschen zugute kommt
Etwa eine Stunde von Kaliningrad entfernt liegt Jantarny, das bis 1946 Palmnicken hieß. Der heutige Name des Ortes stammt vom russischen Wort Jantar – Bernstein, dem Jantarny mit seinen etwa 5.500 Einwohnern und einem der schönsten Strände der russischen Ostsee-Exklave seine Existenz verdankt. Vom Bernstein lebt eine rege Schattenwirtschaft. An Küchentischen, in Schuppen, Lauben und Garagen gibt es Hunderte Heimwerkstätten. Wenn draußen das Meer anbrandet, wird drinnen gebohrt, geschliffen und poliert.
Die Männer stehen mit Gummihosen und Keschern in den Wellen, um das baltische Gold aus dem Wasser zu fischen. Andere graben an Land nach Bernstein, obwohl das eigentlich verboten ist. Neun von zehn Bewohnern Jantarnys hätten etwas mit Bernstein zu
rnstein zu tun, meint Jelena Putinzewa, die selbst in Heimarbeit Löcher in kleine Bernsteine bohrt, die später zu Ketten aufgezogen werden. „Die meisten spezialisieren sich auf einen einzigen Arbeitsschritt, und das reicht.“Die Mutter von drei erwachsenen Kindern, die ohne Mann lebt, hat wechselvolle Jahrzehnte hinter sich. Von Beruf eigentlich Stenografin, diente sie Anfang der achtziger Jahre als Obergefreite im Stab der sowjetischen Armee im afghanischen Kundus. Wieder zurück und demobilisiert, bewachte sie jahrelang Waffendepots im Raum Kaliningrad.Kalte EnteignungHeute verdient Jelena ihr Geld am Küchentisch. Für ein Kilogramm gelöcherten Bernstein erhält sie umgerechnet 38 Euro. Um ein Kilo zu schaffen, braucht sie geschlagene zwei Tage. Und das für etwas mehr als 500 Euro im Monat. Während Jelenas chinesische Bohrmaschine mit 12.000 Umdrehungen in der Minute pfeift, schaut eine schneeweiße Katze beseelt aus dem Fenster. Draußen lässt der Wind ein bisschen Ostseesand am Straßenrand fallen, ehe er wieder Schwung holt und noch das Strohdach vom Haus gegenüber mit einem feinen Sandregen eindeckt. Auch dort gibt es eine Manufaktur neben Küchenherd und Spülstein, auch dort sind die Arbeitsbedingungen primitiv, brennt der Bohrstaub auf der Haut und bedroht die Atemwege.http://img337.imageshack.us/img337/9731/heydeno.jpgDer Berstein-Arbeitsplatz von Jelena Putinzewa (Foto: Ulrich Heyden)Ob es weiterhin vorzugsweise Heimarbeiter sein werden, die Jantarny bevölkern, ist nicht gesagt. Im Ort mit seinem exzellenten Meeresblick, der Dünenlandschaft und einer alten deutschen Bäderarchitektur wird viel gebaut: Hotels, Pensionen und Eigentumswohnungen – 2.500 Euro der Quadratmeter – für die reiche Moskauer oder Petersburger Kundschaft. Die Alteingesessenen würden von Investoren und Architekten gedrängt, ihre Gärten oder am besten gleich ihr ganzes Grundstück zu verkaufen, erzählt Ljudmila Snegowski, die mit ihrem Mann Jewgeni in einem kleinen Häuschen am Ortsrand wohnt. Um Jantarny vor Immobilien-Haien und korrupten Beamten zu schützen, hätten sich die Bürger zusammengeschlossen. Ende 2010 seien sie zum mondänen Schloss-Hotel gezogen, um den damaligen Bürgermeister Alexander Blinow aus dem Amt zu jagen. „Er musste dann tatsächlich zurücktreten“, freut sich Ljudmila. „Unsere Bürgerbewegung setzte sich durch, weil sie beweisen konnte, dass Blinow öffentliche Gelder veruntreut und sich mit windigen Immobilien-Firmen eingelassen hatte. Irgendwann ermittelte sogar der Staatsanwalt, aber wie das ausging – wer weiß?“Wladimir Serdjukow, der Nachfolger im Amt, ist Mitglied der linksliberalen Partei Gerechtes Russland, bei den Bürgern angesehen und beliebt, weil er sich als Mitglied einer Kleingärtner-Genossenschaft der „kalten Enteignung“ in Jantarny widersetzt hat. Aber es wird natürlich weiter gebaut. Worüber Ljudmila alles andere als begeistert ist. Die Infrastruktur des Ortes könne einen Massenansturm von Neubürgern und Touristen nicht verkraften. Sie zeigt auf eine riesige trübe Pfütze unter ein paar Buchen am Straßenrand, nicht weit vom Schloss-Hotel. Das seien Abwässer, die eigentlich direkt ins Meer fließen sollten. „Die Kläranlage und Abwasserrohre stammen bei uns noch aus deutschen Zeiten, sind über 80 Jahre alt und hätten längst ausgewechselt werden müssen.“Direkt neben dem Bergbau-Kombinat von Jantarny, einer Ansammlung unscheinbarer Kastenbauten in Silbergrau und Schmutziggelb, fällt der Blick auf eine mehrere Hundert Meter lange Schlucht. Dort haben sich Bagger 60 Meter tief in blassblaue Erdschichten – die typische Farbe für Bernstein-Lager – eingegraben. Der Tagebau sieht aus wie eine große Wunde. Später soll daraus ein Binnensee werden.Ein Leichtes für BogdanAber nicht allein der reguläre Abbau – auch das illegale Graben nach Bernstein und der illegale Handel mit dem Ausland florieren. Wie die Regionalzeitung Nowye Koljosa schreibt, hat der Schmuggel beachtliche Ausmaße angenommen. Jährlich würden mindestens 500 Tonnen Rohbernstein aus dem Raum Kaliningrad verschoben. Dazu kämen noch etwa 130 Tonnen, die als verarbeitete Schmuggelware über die Grenze gingen. Das Blatt schätzt, tatsächlich sei die geschmuggelte Menge viermal höher.Und so findet man die Bernsteine: Die Erde wird an Ort und Stelle mit Hochdruckspritzen gewaschen, dann der Bernstein per Hand herausgelesen und sortiert, während Wachleute mit Schäferhunden über das Gelände des Tagebaus patrouillieren. Trotzdem wandern viele Steine direkt in die Taschen der Mitarbeiter. Das Unrechtsbewusstsein ist gering, weil das gesamte Bernstein-Geschäft seit jeher stark kriminalisiert ist. Jeder bedient sich, so gut er kann.http://img502.imageshack.us/img502/3359/kaliningradp.pngBernstein könnte die gesamte Region Kaliningrad (Karte l.: der Freitag) ernähren, heißt es. Immerhin lagern hier 90 Prozent aller Bernstein-Vorkommen weltweit. Doch den großen Gewinn beim Handel mit dem baltischen Gold machen russische Schmuggler und die Nachbarländer Litauen und Polen, wo sich im zurückliegenden Jahrzehnt eine eigene Industrie für die Weiterverarbeitung etabliert hat.Die Schlüsselfigur beim Bernstein-Export aus der Exklave heißt Viktor Bogdan. Der ehemalige Polizist und Wachmann des Bernstein-Kombinats saß schon im Gefängnis und ist in der Branche unter dem Spitznamen Balett bekannt. Aber die Sünden von einst sind längst verziehen. Viktors Im- und Export-Firma Amber-plus besitzt einflussreiche Fürsprecher in der Gebietsadministration. Und allein das zählt. Es war ein Leichtes für ihn, dem Bernstein-Kombinat den nächsten Arbeitsgang nach dem Sortieren der fossilen Steine abzuschwatzen.Schon vor längerer Zeit seien die meisten Weiterverarbeiter kurzerhand entlassen worden, erzählt der Bergbau-Ingenieur Wladimir Abramow, der im Tagebau arbeitet. Noch 1995 habe das Bernstein-Kombinat ungefähr 1.800 Menschen beschäftigt – heute sei bestenfalls die Hälfte übrig geblieben. Der 49-Jährige verdient umgerechnet 800 Euro im Monat. Weil das nicht reicht, um in Jantarny eine sechsköpfige Familie zu ernähren, hat Abramow im Erdgeschoss seines Hauses ebenfalls eine Werkstatt eingerichtet. Dort gießt er kleine Bernsteine in weißes Polyester-Material und formt daraus Schmucksteine für Halsketten. Seine Kinder müssten mit anpacken. Allein abends durch Heimarbeit noch für den Unterhalt der Familie sorgen, das könne keiner schaffen. „Die Regierungspolitik läuft darauf hinaus, dass Russland auf die gesamte Weiterverarbeitung verzichtet“, meint Abramow. „Der Rohstoff wird nur noch gefördert und dann gleich ausgeführt. Selbst produzieren wir gar nichts mehr. Sehr bedauerlich!“Er habe versucht, den Kreml auf die unhaltbaren Zustände im Bernstein-Kombinat von Jantarny aufmerksam zu machen, auf die Diebstähle, den Schmuggel, die Schwarzarbeit – doch ohne Erfolg. Er habe deshalb sogar einen Brief an Präsident Wladimir Putin geschrieben. „Irgendwann traf eine Antwort vom Industrie-Ministerium in Kaliningrad ein. Man bedanke sich für mein Engagement. Das war alles – geändert hat sich nichts.“Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 geriet das Jantarny-Bernstein-Kombinat in den Mahlstrom des Zeitgeistes und wurde umgehend privatisiert. Im Jahr 2002 jedoch ließ sich der Bankrott des Unternehmens nicht mehr abwenden, sodass der Staat als Gesellschafter einspringen musste. Anfang des Jahres hat nun Sergej Stepaschin, Chef des Zentralen Russischen Rechnungshofes in Moskau, angeregt, man solle diesen traditionsreichen Betrieb wieder an einen oder mehrere Investoren verkaufen, die staatliche Aufsicht aber beibehalten. Das verspreche nicht nur mehr Effektivität, sondern könne auch eine Rückkehr zur eigenständigen Weiterverarbeitung von Bernstein ermöglichen. Doch in Jantarny trauen sie solchen Ankündigungen längst nicht mehr. Zu viel ist seit den neunziger Jahren schon versprochen worden. Kaliningrad sollte wegen seiner privilegierten Lage ein Tor zur Welt und das Hongkong Russlands werden – das Bernstein-Kombinat von Jantarny mittendrin.Damit sie nicht hinausfliegenJetzt steht statt Industriepolitik Kriminalitätsbekämpfung auf der Tagesordnung – sprich: ein energisches Durchgreifen der Behörden gegen illegale Bernstein-Schürfer und deren grenzüberschreitende Infrastruktur der Hehlerei und des Schmuggels. Nikolai Niklojewitsch Zukanow, seit 2010 Kaliningrads neuer Gouverneur, ist um den Nachweis von Tatkraft nicht verlegen und verfolgt die Bernstein-Mafia, wo immer er kann. Im Vorjahr gab es über 200 Verhaftungen. Schon wer als unbedarfter Tourist auf eigene Faust nach dem baltischen Gold gräbt, schwebt in Gefahr, sich strafbar zu machen. Und wer zu einem kriminellen Netzwerk gehört, muss mit mehrjährigen Gefängnisstrafen rechnen. Gleichzeitig ziehen die Fahnder Pumpen, Bagger und Transporter auf Nimmerwiedersehen ein. Bisher freilich entfaltet der Fahndungsdruck keine sonderlich abschreckende Wirkung. Die Bernstein-Gemeinde, die vom Geschäft mit dem baltischen Gold lebt, hält zusammen. Sie weiß, was sie zu verlieren hat.
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