Wikipedia verknappt das Wissen

Autorenrückgang Die Zahl der Autoren und neuen Artikel bei Wikipedia haben in den letzten Jahren stetig abgenommen, statt Masse will die Enzyklopädie jetzt auf Klasse setzen

Zwei Nachrichten waren etwas versteckt über Wikipedia in diesen Tagen zu lesen. Die eine betrifft den Autorenschwund des Onlinelexikons: Seit 2007 seien 21.000 der 56.000 englischsprachigen Schreiber abgesprungen, immerhin rund 35 Prozent. Gleichzeitig verkündete Wikipedia die Einnahmen aus dem jährlichen Spendenaufruf, der immer um die Weihnachtszeit gestartet wird. Mit 25 Mio. Dollar weltweit, davon 5 Mio. Euro aus Deutschland, ist die zusammengekommene Summe so hoch wie noch nie. Irgendwie paradox: Wikipedia wird zur gleichen Zeit größer und kleiner.

Dabei hängen die beiden Zahlen durchaus zusammen, sind Teil einer gemeinsamen Logik und beweisen, dass sich Wikipedia von seinen Wurzeln zu entfernen beginnt. Als Ursache für den Autorenrückgang nennt eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Minnesota die „restriktiven Mechanismen zur Qualitätskontrolle“. Statt Masse will die Enzyklopädie nun vermehrt auf Klasse setzen, statt billigem Discounter-Wissen erlesene Qualitätsartikel anbieten.

In der Tat, mit den Autoren hat auch die Zahl der neuen Artikel in den letzten Jahren stetig abgenommen. Das ist neu in der Geschichte des lexikalischen Wissens. Von Diderots Encyclopédie über die Encyclopaedia Britannica bis zum Brockhaus lautete die Formel: Mehr Bände, mehr Artikel und letztlich mehr Wissen. Auch das Verhältnis zur Qualität scheint sich gewandelt zu haben. Während Diderot gegen die hierarchische Wertung des Wissens zu seiner Zeit ankämpfte und Artikel über Ackerbau gleichberechtigt neben jene über Könige und Theologie stellte, wird nun erneut gewichtet. In der Wiki-pedia-Sprache heißt das Zauberwort „Relevanzkriterien“, nach dem die Auswahl getroffen wird.

Qualität statt Quantität, Verknappung statt Überkapazität – all diese Begriffe entstammen einer ökonomischen Logik. In einer Zeit, in der Kapitalströme über alle Grenzen hinweg zirkulieren, erscheint die Verknappung und Verwaltung des Wissens durch „Relevanzkriterien“ und Algorithmen der Qualitätskontrolle jedoch paradox. Wissen ist kein ökonomisches Erzeugnis und wird durch institutionell verordnete Qualitätsstandards nicht besser oder sicherer wie etwa Milch oder Airbags. Gerade in seiner Anfälligkeit für Fehler und Irrtümer liegt ein kreatives Potenzial, das die Gesellschaft zum Zweifeln und Weiterdenken anhält. Von diesen Unwägbarkeiten muss sich ein internationaler Konzern wie Wikipedia bedroht fühlen. Sobald Wissen als Produkt verstanden wird, bedeuten Fehler dessen ökonomische Entwertung – als Konsequenz gilt es, verdächtige Artikel abzustoßen wie faule Wertpapiere. Qualitätssteigerung ist damit für Wikipedia immer auch eine Wertsteigerung des Unternehmens, eine Rechnung, die die Spender verstanden und gerne bezahlt haben.

Aber geht die Rechnung auch auf? Blättert man durch alte Lexika, so stellt man schnell fest, dass der Friedhof des alten und überholten Wissens unendlich groß ist. Wikipedias neue Qualitätskontrollen erscheinen aus dieser Perspektive wie ein Kampf gegen Windmühlen, sorgen aber dafür, dass die ungehinderte und offene Produktion von neuem Wissen etwas weniger frei wird. „Im Zweifel für den Fehler“ erschiene in solchen Situationen die bessere Alternative zu sein.

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