Kürzlich erst war in einer Berliner Tageszeitung eines seiner schönsten Fotos zu sehen: Das junge Paar, das an der S-Bahn-Mauer durch den Regen rennt. Eine typische Aufnahme für den Chronisten Borchert und seine Kunst, atmosphärisch, genau, handwerklich präzise den Moment eines Lebens zu erfassen. Fotografieren war für den gebürtigen Dresdner immer ein Begegnen mit der Zeit. Seit Jahren begleitete er mit der Kamera Familien auf ihrem Weg. Im Abstand von einigen Jahren erneuerte er diese sozialen Protokolle, man sah die leisen Veränderungen, die seit dem letzten Mal entstanden waren. Christian Borchert arbeitete wortkarg, freundlich und insistent. Er war keiner, der Schnappschüsse machte, seine Fotos waren Produkte lange vorher getroffener Beobachtungen, die sich im Bild verdichteten. Vor allem seine Geburtsstadt Dresden verdankt diesen künstlerischen Stenogrammen viel. Ob sie es ihm immer gedankt hat, steht auf einem anderen Blatt. Anlässlich seiner Ausstellung »Zeitreise-Bilder einer Stadt« im Frühjahr 1996 im Dresdner Stadtmuseum hat Christian Borchert in einem Gespräch mit Matthias Flügge und Michael Freitag berichtet, wie er seit 1985 an einem historischen Projekt zur Geschichte der geschundenen Stadt gearbeitet hat. In dem Filmmaterial seit dem Ersten Weltkrieg fand Borchert jene Porträts, die ihn an sein großes Vorbild August Sander erinnerten. Sein Credo fasste er so zusammen:» Distanz ermöglicht Deutlichkeit. Selbstbetrug aber kann einsetzen, wenn man eine Sache von weitem betrachtet und als Fotograf glaubt, man sähe dadurch klarer.« Anfang der siebziger Jahre war Christian Borchert für einen Tag in Szczecin. Er fotografierte einen Mann mit einer Personenwaage, der darüber sehr zornig war. »Das war eine Schlüsselerfahrung. Was mich an der Fotografie interessiert, ist, eine Mitteilung zu machen. Aber die wünsche ich mir gerecht, genau und ohne Übertreibung und Effekte, eben ÂentsprechendÂ, so daß andere - jetzt oder später oder an fremden Orten - sich eine Vorstellung machen können von Situationen und Verhältnissen. Es ist Fotografie gegen das Verschwinden.«
Als ich Christian Borchert Mitte der siebziger Jahre kennen lernte, hatte er gerade seinen Job als Fotoreporter bei der Neuen Berliner Illustrierten (NBI) beendet. Er wirkte befreit, weil er endlich Fotografie im Eigenauftrag betreiben konnte und nicht länger den Zwängen des Terminfotos ausgesetzt war. Zusammen mit Evelyn Richter, Arno Fischer, Sibylle Bergemann, Ute Mahler gehörte er zu denjenigen DDR-Fotografen, die das Foto aus seinem vordergründigen agitatorischen Auftrag befreiten und der individualisierten, künstlerischen Aufgabe des Genres den Vorrang gaben, ohne es von seinen sozialen Bindungen zu lösen.
Am vergangenen Woche ist Christian Borchert bei einem Badeunfall nördlich von Berlin ums Leben gekommen.
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