Irren oder Irrsein

Medienkritik Einige unreine Überlegungen zur Medienwirklichkeit in Deutschland aus der Sicht eines Lesers, der gelegentlich schreibt

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Irren oder Irrsein

Foto: Justin Sullivan/ AFP/ Getty Images

Die Kommentare zu den jüngeren Ereignissen in Italien könnten hierzulande deutlicher nicht sein. Politiker, die dort gewählte Verantwortliche oder Wortführer von Parteien als Clowns bezeichnen und dabei sorgsam ausklammern, dass sie mit ihnen bereits am gleichen Verhandlungstisch gesessen haben, ohne auch nur einmal in freudige Erregung wie im Zirkus Krone ausgebrochen zu sein. Bis zu Kolumnisten deutscher Leitmedien, die das Ganze in die Nähe von Schwarzen Löchern („Anomalie“) oder gewöhnlicher Pathologie („Züge von Unzurechnungsfähigkeit“) rücken.

Die Versuchung ist groß, zu schreiben: Was man sich und anderen nicht erklären kann, oder ein Gran härter: nicht in die eigenen Maßstäbe passt, wird über eine Beschreibung von „unnormal“ im Umkehrschluss passend gemacht.

Die Psychologisierung als Ausdruck völliger Hilflosigkeit

Das ist freilich nicht nur ein Akt der Selbstvergewisserung der Meinenden/Schreibenden, die sich inzident als in der Norm befindlich hervor heben. Oder die Bestätigung, dass das eigene System, welche Ungerechtigkeiten und skandalöse Zustände es auch gezeitigt haben mag, letztendlich doch über alle Zweifel erhaben ist. Vielmehr spielen derartige Zuschreibungen mit dem, was hierzulande eigentlich als höchstes demokratisches Gut gilt: Das Wahlrecht der BürgerInnen, das in der Mehrheit staatskundlicher Grundlagenwerke als bester Ausdruck des eigentlichen Souveräns vorgestellt wird.

Denn wenn es so wäre, dass tatsächlich Clowns und Unzurechnungsfähige gewählt wurden, wie diesem Narrativ zufolge im vergangenen Februar bei unserem Nachbarn, dann müssten die insgesamt rund 22 Millionen Menschen (und damit beinahe 50% der Wahlberechtigten), die sich anders als für die demokratische Partei (PD) entschieden haben, zwangsläufig selbst an einer Umnachtung leiden. Denn wer wählte sonst und das freiwillig jemanden als Repräsentanten, der entweder in die Manege gehört oder in die geschlossene Anstalt?!

Dass diese subliminale Botschaft von den derart Adressierten zurückgewiesen wird, ist so selbstverständlich wie der dabei an den Adressaten gerichtete Vorwurf, mindestens ignorant zu sein, wenn nicht interessengeleitet. Die Verantwortung der Publizisten mag hier allenfalls darin zu sehen sein, die heftigsten Reaktionen nicht in die Sprache seiner Leserschaft zu übersetzen: Es sind schon aus geringerem Anlass Kriege geführt worden.

Und das ist in der Tat ein Teil des Problems. Die schlichte Nichtkenntnis von den Entwicklungen und Alltäglichkeiten jenseits einer geographischen, kulturellen oder politischen Grenze lassen gar eine andere Wahl, als die punktuell hervorgehobenen Ereignisse von dort unter hiesige Maßstäbe zu subsumieren – der eigene Horizont wird auf diese Weise zum allgemein-, dem einzig gültigen, egal ob der so bewertete Sachverhalt sich in x oder y abspielt.

Diese Form der ignoranten Berichterstattung hat die letzten 20 Jahre deutscher medialer Wirklichkeit maßgeblich geprägt. Denn nicht nur wurde die Zahl der sogenannten Auslandskorrespondenten unter Verweis auf deren Kosten kontinuierlich dezimiert. Die Verbliebenen wurden vielmehr zu Länderkomplexen (Südeuropa, Afrika, Osteuropa) gebündelt und derart überfrachtet, dass alleine aus Zeitgründen jegliche Form von Vertiefung im einzelnen Gebiet unterbleiben musste.

Akteure, die sich ahnungslos geben

Weitaus gravierender jedoch ist, dass originäre Stimmen aus dem betreffenden Ausland selbst kaum zu Wort kommen, am häufigsten noch in aphorismengleichen Zitaten. Die dienen freilich weniger der Informationsvermittlung als der Feststellung, dass der deutsche Journalist in der Lage war, einen Beleg zu finden und ihn in seine Sicht der Dinge zu integrieren. Oder dass er zumindest fähig gewesen ist, das örtliche Idiom rudimentär zu verstehen.

Eine Form der länderübergreifenden Sprachlosigkeit ist das in Wirklichkeit, die dem eigentlichen Informationsauftrag von im herkömmlichen Sinn gemeinten Medien in Zeiten der Globalisierung Hohn spricht. Denn es mag sein, dass speziell deutsche Verlage in das Auslandsgeschäft expandieren (und diese Investition wie jüngst Gruner + Jahr wieder zurück fahren) und damit ebendort eine Medienmacht aufgebaut haben (wie Spinger und die WAZ-Gruppe in Ungarn).

Dass aber damit Synergien in Form verbesserten Austauschs zwischen (!) den Ländern, Bevölkerungen oder Kulturen freigesetzt würden, kann wahrlich nicht behauptet werden. Zurecht beklagte der NDR 2011 das „Schweigen deutscher Verlage zu Ungarn“. Allerdings nicht nur in Bezug darauf, dass man im Land selbst kaum Kritisches zur Beschneidung von Meinungs- und Pressefreiheit brachte, sondern sich wie etwa die RTL-Group hinter der Floskel verbarg, es liege „am lokalen Management sich zur Politik des Landes zu äußern“, um das Schweigen auch in Deutschland zu rechtfertigen.

Unter den gleichen Bedingungen konnten sich in Italien die xenophoben Extremisten der Lega Nord bis in Ministersessel (u.a. des institutionell stets starken Innenministers) in vier Regierungen hochhangeln, ohne kaum je ein Wort von außen zu erfahren. Und nicht nur diese Partei, deren Ausläufer wir in München in Form etwa der Ortsgruppe von Politically Incorrect zu sehen genötigt sind, ist eine der maßgeblichen Bedingungen für die heutige Blockadesituation in Italien.

Erste Schritte unverhohlener Propaganda

Die Zurückhaltung in der Auslandsberichterstattung, die derzeit den Versuch einer Kompensation durch grobe Begriffe aus der von zahlreichen SchreiberInnen einmal belegten Fachrichtung Psychologie erfährt, ist nicht lediglich die Fortsetzung einer Courtoisie oder des Prinzips der Nichteinmischung. Im Zusammenhang mit einer tatsächlich freien Presse wären solche Begriffe aus dem Staatsrecht ohnehin wenn nicht grober Unfug, so doch zumindest ein Paradoxon zur Kontrollfunktion der Vierten Macht. Vielmehr wäre an der Darstellung der buchstäblich fremden Lebensverhältnisse und –weisen nichts Anrüchiges und auch keine verbotene Eigenmacht zumal in einem Europa, das sich untereinander tatsächlich als Inland behandelt.

Im Gegenteil: Die beständige Begleitung würde den Blick darauf klären, dass Menschen vom Nordkap bis zum Bosporus (und darüberhinaus) exakt die gleichen Bedürfnisse teilen und nur der Weg möglicherweise unterschiedlich ist, sie zu befriedigen.

Für Europa etwa würde die Scheindebatte darüber, ob nun Zyprioten und Italiener doch mehr auf der hohen Kante haben als die Deutschen, überhaupt nicht geführt. Denn es wäre eine Selbstverständlichkeit, festgestellt zu haben, dass hier wie dort nicht nur die Einkommensscheren auseinander gelaufen sind, sondern jeweils ein Großteil am Wirtschaftsvermögen in den Händen von nur Wenigen konzentriert wurde: In Deutschland (2009) sind es 10% der Bevölkerung, die 60% des Gesamtvermögens halten, in Italien (2011) steht das Verhältnis 10 zu 45.

Dass eine solche Gesamtschau unter Umständen verlagsseitig gar nicht gewollt und der Unwille dazu möglicherweise politisch induziert ist, zeigt eine der jüngeren Ausgaben des Handelsblattes. Auf der Grundlage einer manipulativen Umfrage im Auftrag der Zeitung jazzte am 22.04. ein nicht unterschriebener, aber akkurat präsentierter „Exklusiv-Artikel“ die im Kern nationalistische Partei „Alternative für Deutschland“ auf einen Zustimmungswert von 19%. Zur Erinnerung: Das Handelsblatt ist Pflichtblatt der Börsen in Frankfurt und Düsseldorf und das meistzitierte Wirtschaftsmedium in Deutschland. Die Verlagsgesellschaft gehört zum Familienunternehmen von Holtzbrinck Medien GmbH mit Sitz in München.

Der Gedanke des Domino-Effekts im Europäischen Raum, hierzulande bislang von Publikationen unter der Ägide von „faulen Griechen“, „korrupten Zyprioten“ und „irren Italienern“ verhandelt und nun unter der Gegenüberschrift „wirtschaftlicher Vernunft“ des AfD zusammengefasst, bekommt damit eine ganz eigene Fallrichtung: Dass die strukturellen Probleme der einzelnen Staaten, auf die mit nacktem Finger gezeigt wurde, nicht nur deren oder das der Europäischen Union sein könnten, sondern auch solche in Deutschland.

Sie sind zwar noch nicht in ihrer vollen Virulenz aufgebrochen, aber ganz allmählich der in Europa im Vordringenden begriffenen Erkenntnis zugänglich, dass auch hierzulande einiges vom Grundsatz her diskussionswürdig ist. Etwa die, dass nicht nur Sparen ein Rezept ist, sondern auch die Verbesserung der staatlichen Einnahmeseite. Oder noch genereller: Der Sozialbindung von Eigentum.

Der Gedanke liegt daher nicht fern, zwischen den Interessen einer nationalistischen Parteineugründung, die eine Inselmentalität verbreitet und denen eines Clans, der mit schöner Regelmäßigkeit in der Forbes-Liste der reichsten Deutschen aufscheint, mehr als nur eine zufällige konservative Konvergenz anzunehmen - die kaum verhohlene Parteipropaganda des Handelsblattes könnte auch jenseits der reinen Brückenfunktion vielsagender nicht sein, nämlich eine konservierende, die Verhältnisse in Deutschland intakt halten soll.

Oder, um es einfacher auszudrücken: Es dürfte auch einigen Abgeordneten in München derzeit ziemlich unangenehm sein, mit italienischen Verhältnissen verglichen zu werden, seitdem ruchbar ist, dass im bayerischen wie römischen Parlament die Anstellung von Familienmitgliedern und deren Entlohnung mit Steuergeldern zwar nicht zum guten, aber weit verbreiteten geschäftlichen Ton gehört.

Mündige Leser/Schreiber stimmen per Kündigung ab

Aber nicht nur den Interessen derjenigen, die mit geradezu atemberaubendem Tempo den Rahm abschöpfen und die Milch darunter verwässern, sind damit angesprochen, sondern es ist die Leserschaft selbst. Jede verlegerische und redaktionelle Entscheidung wird, so die herrschende Lehre und Praxis, an der Publikumswirksamkeit gemessen. „Davon leben die Medien schließlich“, so die dezidierte oder abgewandelte Maxime. Aber sie vermag nicht zu erklären, warum eben diesen Medien die Leser scharenweise davon gelaufen sind, obwohl mittlerweile die unterschiedlichsten Kuren und Mixturen überlegt -wie etwa in der noch immer sehr lesenswerten Beitragsfolge der SZ unter der Überschrift „Zukunft des Journalismus“- und angewendet worden sind.

Denn die Frage ist letztlich die nach der Henne und dem Ei: Was war zuerst da, das Publikumsinteresse oder seine Generierung. Oder, der Zusatz sei erlaubt, die Zurichtung des Publikums auf eine bestimmte Form der Rezeption.

Schon Mick Jagger wusste von „some useless information“ zu singen und deren Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen („'cause he doesn't smoke
the same cigarettes as me”). Weswegen es auch völlig müßig ist, über den (Un)Sinn von Artikeln zu räsonieren, die sich mit dem neuesten Automobil im Anschaffungswert von über 100.000 Euro (und entsprechender Dreckentfaltung) beschäftigen und sich nur als geschicktes Product-Placement erweisen.

Denn die meisten deutschen Zeitungen sind selbst der Gigantomanie erlegen, die suggeriert, dass Viel viel bringt und Größe alles sei. Tageszeitungen mit einem durchschnittlichen Volumen von 50 Seiten und mehr selbst an einem ruhigen Mittwoch beschäftigen, von vorne nach hinten gelesen, rein zeitlich so sehr, dass am Ende des Tages (Arbeitstag von durchschnittlichen ArbeitnehmerInnen wohlgemerkt, die nicht bei der betreffenden Zeitung beschäftigt sind) das Gefühl zurückbleibt, doch nicht alles geschafft zu haben. Schade um das viele Papier, das ungelesen den Weg alles Vergänglichen geht. Aber noch viel mehr: Eine Schande, nicht die Zeit zu haben, sich dann noch eine andere, geschweige denn abweichende Meinung zum Vergleich zu holen.

Das ist nicht lediglich die Blaupause einer Unternehmenswelt, die ihr Heil in der sogenannten Diversifizierung sucht und dabei häufig ihre Kernkompetenzen vergisst, so als ob schiere Größe diese ersetzen könnte. Sie führt uns vielmehr zurück auf den Anfang der vorliegenden Betrachtung: Die Selbstvergewisserung ist bei den derart konditionierten LeserInnen angekommen, die sie mit ihren Abonnements und dem Kaufpreis ihrerseits alimentieren. Ein inzestuöser Kreislauf, der ganz allgemeinen genetischen Gesetzen folgend, tatsächlich Anomalien generiert.

Es sei denn, Abos werden gekündigt. Wie von denen, die sich ihre eigenen Aggregatoren zusammenstellen, die nicht nur über Feeds, Social-Networking oder Blogrolls funktionieren, sondern mit jedem einzelnen Klick im Netz. Hier die Geschichte hinter der Geschichte vom sogenannten Leistungsschutzrecht noch einmal zu erzählen, wäre müßig, da es Bessere gibt, die das bereits getan haben. Aber die Fortführung des (geistigen) Eigentumsrechts -diesmal als primäres der Verlage, die es ihrerseits unter Vorgaukelung stabilerer Verhältnisse den eigentlichen Urhebern, den Autoren abgetrotzt haben- wird keine Rettung für das Verlagsgeschäft sein und damit noch weniger für die einzelnen JournalistInnen.

Letzte Rettung – Strom abstellen

Denn was sich in den vergangenen 20 Jahren langsam, aber immer sichtbarer verändert hat, ist die Bereitschaft der Menschen, in andere als die etablierten Modelle der Informationsbeschaffung und –verarbeitung zu investieren. Entweder indem sie sie gesondert vergüten oder sich hinsetzen und ihre Zeit in Denkarbeit fließen lassen, deren Ergebnisse sie selbst veröffentlichen. Das hat sogar unmittelbar politische Auswirkung.

Wenn es richtig ist, dass in Italien -ähnlich wie in Deutschland- ganze Flaggschiffe des Journalismus ins Schlingern geraten (bei unserem Nachbarn ist es derzeit der Corriere della Sera, Erstausgabe anno 1876; die Frankfurter Rundschau datiert von der „Stunde Null“ 1945), so ist andererseits eine Tatsache: Viele, vor allem junge Menschen in Italien, können sich Abos nicht einmal mehr leisten, obwohl sie sogar akademische Grade erlangt haben, aber keine Arbeit finden – sie haben sich im Netz zu dem zusammengeschlossen, das sich 5-Sterne-Bewegung nennt, weil sie begonnen haben, die eigene Situation zu reflektieren und aufzuschreiben.

Dieser Tendenz könnte nur eines entgegengesetzt werden: Den (Strom)Stecker ziehen. Das versuchen, in Deutschland wie Italien, viele. Indem das Netz als obskurer Platz, als Hort des Verbrechens und seiner Verabredung, als sich selbst permanent neu erfindender Shit-Storm durchdekliniert wird. Am lautesten sind dabei die Leitmedien und die ihnen kongenialen politischen Gruppierungen, die sich Figuren wie Axel Spinger oder Rudolf Augstein herbeisehnen und mit ihnen genauso autoritäre Knöpfe am Rednerpult des Deutschen Bundestages wünschen.

Dass das nicht funktioniert, sondern die Auflagen weiter sinken während die Reichweiten im Netz steigen, zeigt: Entweder die Herr- wie Damenschaften jener Verlage (und Gruppen) irren sich gründlich oder sie sind selbst dem Wahn anheimgefallen, bedeutend zu sein. Da hilft dann allerdings auch kein Schirrmacher mehr. e2m

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ed2murrow

e2m aka Marian Schraube "zurück zu den wurzeln", sagte das trüffelschwein, bevor es den schuss hörte

ed2murrow

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden