Bei uns roch es genauso

Talente Das Hildesheimer Prosanova-Festival zeigte: Die junge deutsche Literatur ist altbackener, als sie denkt
Ausgabe 23/2014

Irgendwann setzt sich der Geruch eines Gebäudes in den Wänden fest und bleibt. Obwohl die Schulzeit für die meisten Beteiligten vorbei war, fand das größte Festival für junge deutschsprachige Gegenwartsliteratur in einer alten Hauptschule statt. Man hörte die Festivalbesucher von ihrer zähen Schulzeit erzählen, während sie von einer Lesung zur anderen an den alten Klassenräumen vorbeigingen: „Bei uns roch es genauso.“

Das Augenmerk des alle drei Jahre von der Literaturzeitschrift BELLA triste sowie Hildesheimer Studierenden organisierten Festivals liegt darauf, Literatur zu vermitteln, sie zu feiern und sich so weit wie möglich von der Trockener-Husten-zum-Wasserglas-Lesung zu entfernen. Zwei Monate lang wurde dafür die leerstehende Schule renoviert, bebaut, behangen und bemalt, bis sie und ihr alter Linoleumboden nicht mehr wiederzuerkennen waren.

An den Flurwänden hingen letztes Wochenende also kunstvoll gefaltete Bücher, Klassenzimmer wurden zu White Cubes, auf dem Pausenhof standen Sofas und Sitzgarnituren für die Lesungen im Freien – und auf den liebevoll mit Goldfolie ausgekleideten Toiletten lief ein Hörspiel. Hildesheim ist ein eigenartiger Ort, wenn man versucht, ihn nachzuerzählen. Irgendwo also zwischen Kunstperformance, Installation und Branchentreff sollten, verschieden inszeniert und in verschiedenen Formaten, die innovativen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu hören sein. Auf dem literarisch erkundbaren Festivalgelände gab es szenische Lesungen, Diskussionsrunden, Microperformances, eine Social-Reading-Lesung, Rave-Vorträge und einen Kurzgeschichtenwettbewerb. Alles in allem war das Prosanova 2014 ein charmantes und gut gemachtes Festival, das man im Resümee aber leider oft von seinem nicht ganz überzeugenden Inhalt trennen muss.

Wurstfingerdick Künstlichkeit

In den Diskussionsveranstaltungen wurde natürlich auf die Literaturdebatte eingegangen, die von Florian Kesslers Arztsohn- und Professorentochterpolemik ausgelöst worden war (Kessler ist Absolvent des Hildesheimer Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus und also ein local hero). Dabei wurde ordentlich postuliert und gefordert, jedoch ist ein halbes Jahr ganz offensichtlich zu kurz, als dass die junge Gegenwartsliteratur wieder eine Gegenständlichkeit finden könnte.

Natürlich gab es Lichtmomente, aber leider waren prosaische Texte die Regel, die sich mit angezogener Handbremse allein auf ihre sprachliche Unangreifbarkeit konzentrieren. Beim Literaturwettbewerb sprach die Jury großes Lob durch Verweise und Vergleiche zu alten Meistern aus, fühlte sich an Poe und Márquez erinnert, machte die Daumen-nach-oben-Geste, wenn die Sätze stimmten und die Autorinnen und Autoren ihre Motive im Griff hatten. Von der geforderten Dringlichkeit oder dem Mut zum Mut war wenig zu hören, stattdessen wurden Texte beklatscht, die eine wurstfingerdicke Schicht Künstlichkeit auf sich trugen und in denen es um fast nichts ging als um ihre geschliffene Sprache. Die Texte, die auch thematisch den Mut hatten, etwas zu wagen, Reibungsfläche zu bieten, wurden zwar anerkannt, aber dann freundlich geschoben.

Der Publikumspreis ging an einen Text über die Simulation eines Kriegsschauplatzes – und der Jurypreis an einen Text über eine Gartenparty. Nicht lustig. Gegenwartsliteratur, die eine Sprache nutzt, die im 19. Jahrhundert für ein Gesellschaftspanorama verwendet worden wäre. Runde Worte, melonenfarbene Autos, ohne Drive, detailverliebtes Nichterzählen. Aber souverän gemacht. Natürlich ist es wichtig, dass ein Text sprachlich und handwerklich sitzt, allerdings sollte man meinen, dies gelte als vorausgesetzt. Inhalt und Gehalt sollten dagegen nicht bloß die B-Note bestimmen. An seine Lieblingsbücher erinnert man sich doch wegen ihres Stoffs, wegen der Geschichten, wegen der eindringlichen Figuren. Und eben nicht nur, weil der Autor geschickt zeigt, wie er die Motive – die er sich wohlgemerkt selbst ausdenkt – bändigen kann.

Die moderne Literatur ist altbackener, als sie glaubt, und scheint mehr als alles andere nur um ihre Literarizität bemüht. Vermutlich, weil das sich lange Zeit bewährt hat. Was uns aber wieder zum Anfang führt. Irgendwann setzt sich der Geruch eines Gebäudes einfach in den Wänden fest, und man bekommt ihn nicht mehr raus.

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