Zum Auftakt der Spiele: Brasilien gibt Gummi

Confederations Cup Feierlaune sieht anders aus: Zu Beginn des Konföderationen-Pokal demonstrieren zehntausende Menschen gegen neue Bustarife und eine verfehlte Politik rund um die WM 2014.

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Zum Auftakt der Spiele: Brasilien gibt Gummi

Foto: NESLON ALMEIDA / AFP / Getty Images

Wer dem Klischee verfallen ist, dass sich die fußballbegeisterten Brasilianer durch nichts den Spaß am Spiel verderben lassen, irrt. In São Paulo demonstrierten am vergangenen Donnerstag etwa 10.000 Menschen, in Rio de Janeiro waren es über 5.000. In mehreren anderen Städten, unter anderem der Bundeshauptstadt Brasilia, brachten weitere Zehntausende ihre Wut über eine erneute Erhöhung der Bustarife zum Ausdruck. Doch es geht um mehr: Zur Eröffnung des Confed Cup mischt sich der Unmut über die Fahrpreiserhöhungen mit der Empörung über Privatisierungen, der Verschwendung von Steuergeldern und Zwangsumsiedlungen im Rahmen der Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft im kommenden Jahr. Längst lautet die entscheidende Frage „WM – für wen?“.

Gummigeschosse gegen Demonstranten zum Auftakt der Spiele

Die größtenteils friedlichen Proteste im Laufe der letzten Woche wurden in mehreren Städten mit massiver Polizeigewalt beantwortet. Spezialeinheiten der Militärpolizei setzten Tränengas- und Gummigeschosse sowie Pfefferspray und Schlagstöcke gegen Demonstranten ein. In São Paulo wurden nach Angaben der Militärpolizei über 200 Personen festgenommen, in Rio de Janeiro waren es 31. Besonders gewalttätig ging die Polizei in São Paulo vor. Die Gesellschaft für Investigativen Journalismus Brasiliens berichtet dort von allein fünfzehn teils schwer verletzten Journalisten. Der Fotograf Sérgio Silva etwa wurde von einem Gummigeschoss in einem Auge getroffen und wird auch nach einer Operation mit größter Wahrscheinlichkeit seine Sehfähigkeit verlieren.

Auslöser der Proteste ist die Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr in elf brasilianischen Hauptstädten. In Rio de Janeiro etwa liegt die letzte Erhöhung des Tarifs um zehn Prozent nur 18 Monate zurück, nun wurde er ein weiteres Mal von 2,75 Reais auf 2,95 Reais erhöht. Am teuersten ist das Busfahren in São Paulo mit 3,20 Reais. Wer täglich zwei Fahrten zurücklegen will, muss in diesen beiden größten Städten Brasiliens rund ein Viertel des monatlichen Mindestlohns (etwa 265€) opfern. Damit sind die Fahrtpreise in diesen beiden Städte in Relation zum Mindestlohn weltweit unter den höchsten.

Privatisierter Nahverkehr, prekäre Verhältnisse

Rio de Janeiro ist eine der Städte, in denen das öffentliche Transportsystem vollständig privatisiert ist. Neben den Betreiberfirmen von Fähre, Metro und Regionalbahn buhlen etliche Konzerne um die lukrativen Konzessionen für das Busgeschäft. Doch trotz der immer höheren Preis ist der angebotene Service prekär: Fahrpläne gibt es fast keine, die Fahrtzeiten sind unregelmäßig, die Busse überfüllt. Fahrer und Kassierer werden teils illegal unterhalb des Mindestlohns bezahlt, manche sogar pro gefahrener Runde: Je schneller sie fahren, desto besser fällt der ansonsten magere Lohn aus. Ein Umstand, der immer wieder zu Unfällen führt: Erst im April diesen Jahres durchbrach ein voller Bus die Leitplanke eines Viaduktes, ein Unfall der zehn Personen das Leben kostete. So ungern die Transportfirmen in die Infrastruktur ihres Unternehmens investieren, so gerne unterstützen sie verschiedene Wahlkampagnen. Obwohl es noch immer möglich ist, Wahlkampfspenden vor der Öffentlichkeit zu verstecken, machen verschiedene Aufstellungen deutlich, dass die Wiederwahl von Bürgermeister Eduardo Paes im vergangenen Oktober maßgeblich von verschiedenen Busfirmen finanziert wurde. Und dieser weiß sich zu bedanken: Im April wurden in der Südzone der Stadt die beliebten Kleinbusse verboten. Die Vans mit etwa vierzehn Sitzplätzen sind günstiger und schneller als die herkömmlichen Busse und werden autonom oder von kleinen Kooperativen anstelle großer Transportkonzerne betrieben. Genutzt werden sie vor allem von den ärmeren Bewohnern der Favelas, denn sie bedienen auch weniger frequentierte und damit weniger lukrative Strecken. Mit dem Verbot wurden über dreitausend Personen in die Arbeitslosigkeit geschickt. Die scheinbar so wenig organisierten Transportfirmen wussten die Lücke noch am gleichen Tag zu schließen – was allerdings nur für die rentablen Strecken gilt. Für Zehntausende hat sich die Transportsituation nachhaltig verschlechtert, sie müssen noch mehr Zeit und Geld für den täglichen Weg zur Arbeit und zurück investieren.

Vertreibung der Armut

Doch die Erhöhung der Preise im öffentlichen Nahverkehr ist nur der Auslöser für die massiven Proteste. Tatsächlich hat sich die Wut über die neuen Tarife längst mit der über die Verschwendung von Steuergeldern und massive Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Vorbereitungen für die kommenden Großevents gemischt. Meistens geht dabei um die Vorbereitung für WM 2014, die in zwölf Städten ausgetragen wird. Besonders betroffen ist Rio de Janeiro, wo außerdem 2016 die Olympischen Spiele ausgetragen werden.

In Rio liegen die Missstände im öffentlichen Personenverkehr, eine verschwenderische Investitionspolitik und Menschenrechtsverletzungen nahe beieinander. Während sich die Lage rund um den Personennahverkehr verschärft, werden Milliarden an öffentlichen Mitteln in fragwürdige Infrastrukturprojekte investiert: Allein für fünf neue Stadtautobahnen werden rund 5,7 Milliarden Reais (zwei Milliarden Euro) ausgegeben, wobei deren Nutzen jenseits der Spiele hoch umstritten ist. Ihre Kehrseite mussten schon jetzt viele Personen am eigenen Leib erfahren. Allein um Platz für die fünf großen Straßenprojekte zu schaffen, wurden bereits über tausend Familien enteignet und aus ihren Häusern vertrieben, weitere 4200 Familien sind durch die Planungen bedroht. Wie das „Volkskomitee WM und Olympia“ berichtet, sind in Rio de Janeiro seit 2011 insgesamt 3100 Familien enteignet worden, weiteren 8000 droht die Vertreibung. Von den Räumungsaktionen sind fast ausschließlich Bewohnerinnen der vielen Favelas in Rio de Janeiro betroffen, ganze Viertel mit jahrzehntelanger Tradition werden zerstört. Die Stadtverwaltung entschädigt die Betroffenen nicht in allen Fällen finanziell, in manchen stellt sie noch nicht einmal eine alternative Wohnung zur Verfügung. Doch auch wenn dies passiert, liegen die Wohnungen oft weit entfernt vom ehemaligen Umgebung der BewohnerInnen. Viele Opfer der Vertreibung müssen so in die von Milizen dominierte, abgelegene Ostzone der Stadt ziehen, sie verlieren so ihr soziales Netzwerk und ihren Arbeitsplatz. Raquel Rolnik, UN-Berichterstatterin für adäquates Wohnen, übte am gestrigen Freitag in Genf harsche Kritik an den Zuständen in Brasilien: „Zurückliegende Erfahrungen zeigen, dass solche Veranstaltungen oft zu Zwangsräumungen, Vertreibungen von Obdachlosen und einem generellen Kostenanstieg für adäquates Wohnen führen. In Brasilien ist das leider nicht anders.“

Ausnahmestädte für die FIFA

Die Vertreibung der Armen aus dem Stadtzentrum von Rio ist eine der sichtbarsten Konsequenzen einer neoliberalen Stadtpolitik, die alles tut, um es der FIFA und dem Olympischen Komitee recht zu machen. Doch die Spiele haben viele andere Vorboten, die weniger sichtbar sind: Die Errichtung eines gigantischen privaten Sicherheitsapparates, die Privatisierung von Fußballstadien und öffentlichem Raum, eine massive Immobilienspekulation und Gentrifizierung auch von Favelas. In diesem Zusammenhang spricht Prof. Carlos Vainer vom Institut für Stadt- und Regionalforschung der Bundesuniversität in Rio de Janeiro von einem permanenten Ausnahmezustand: „Die Regeln werden heute durch Einzelinteressen gesetzt, sie kommen nur wenigen Personen zugute. Wenn die allgemeinen Regeln, die das Funktionieren der Stadt gewährleisten, Ausnahmeregelungen untergeordnet werden, entsteht die Stadt der Ausnahme“. Dieser Ausnahmezustand wurde im Dezember 2012 durch mehrere „WM-Gesetze“ juristisch festgezurrt. Sie setzen andere Gesetze schlicht außer Kraft, sei es auf Bundesebene, um die Steuerfreiheit von Produkten der FIFA-Sponsoren zu gewährleisten oder auf städtischer Ebene, um das Baurecht für Stadien außer Kraft zu setzen oder Bannmeilen um die Orte der FIFA-Events zu ziehen. Im Bundesstaat Minas Gerais helfen sie, Demonstrationen an Spieltagen des Confed Cups vollständig zu verbieten. Ob es zu entsprechenden Verboten in anderen Bundesstaaten kommen wird, bleibt abzuwarten. Aktuell wird in ganz Brasilien für Großdemos am kommenden Montag mobilisiert – Spieltag in Recife und Rio de Janeiro. Wo der Staat partielle, kommerzielle Interessen über allgemeine stellt, die Existenz eines physischen öffentlichen Raumes negiert und das Grundrecht auf Meinungsäußerung einschränkt, verlassen viele Brasilianer die sozialen Netzwerke und erobern die Straße für sich, um selber zu entscheiden wie der Ausnahmezustand auszusehen hat. Frei nach Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Mögen die Spiele beginnen!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Felix Martens

Lebt in Rio de Janeiro und studiert Urbanistik und Soziologie.

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