Die Zeitung ohne Chef

Graswurzelrevolution Von Anarchisten gemacht, auf Demos verkauft: Die "Graswurzelrevolution" berichtet monatlich über die Themen der Protestbewegungen. Nun ist die 400. Ausgabe erschienen

Anarchisten, das sind doch Chaoten. Werfen Steine, statt sich lange mit Argumenten aufzuhalten. Wie kann es sein, dass sie eine Zeitung herausgeben und dann auch noch so gut organisiert sind, dass es die Zeitung inzwischen fast ein halbes Jahrhundert lang gibt? Die Graswurzelrevolution erscheint monatlich, im Sommer macht sie Pause. Jetzt ist die 400. Ausgabe erschienen.

Die Graswurzelrevolution versteht sich als anarchistisch und pazifistisch, im Untertitel positioniert sie sich „für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“. Außerhalb der linken Szene ist die Zeitung kaum bekannt, die Auflage liegt seit Jahren zwischen 3.500 und 4.000 Exemplaren. Die allermeisten Leser bekommen sie im Abo, an Bahnhofskiosken ist sie auch manchmal zu finden – und auf Demonstrationen, im Handverkauf, die Weiterverkäufer bekommen einen Extra-Rabatt.

Von der Bewegung für die Bewegung

Die GWR, so wird die Zeitung liebevoll genannt, ist eine Zeitung von der Bewegung für die Bewegung. Eine Zeitung, die sich nicht vereinnahmen lässt vom Medienmainstream, die ehrenamtlich herausgegeben wird von Aktivisten. Trotzdem ist sie mehr als eine Flugblattsammlung, schließlich wird jeder Text redigiert und unter Umständen im Herausgeber-Kreis heiß diskutiert.

Einen Chefredakteur gibt es nicht – wie ließe sich das mit dem Anspruch einer herrschaftsfreien Politik vereinbaren? Der einzige fest angestellte Redakteur, derzeit Bernd Drücke, wird daher Koordinationsredakteur genannt. Zumindest formal hat er die gleichen Rechte wie alle anderen Herausgeber, praktisch hat er natürlich viel mehr Zeit, um sich mit Artikeln zu befassen, sie zu kritisieren oder zu redigieren.

Prinzipiell ist die Zeitung aber für alle offen: Jeder darf im Herausgeberkreis mitmachen, entschieden wird im Konsens. Sobald eine Person ein Veto einlegt, fliegt der Artikel aus dem Blatt. Das Veto-Prinzip führt dazu, dass ausgiebig unter den Herausgebern diskutiert wird, aber leider auch dazu, dass abweichende Meinungen nur auf der Leserbriefseite zu finden sind – dort wird unzensiert abgedruckt, allerdings ist dort die Länge begrenzt.

Parteien? Langweilig!

Über Parteien ist in der Zeitung (so gut wie) nichts zu lesen, dafür über die Themen der sozialen Bewegungen. Über Castorblockaden, über den „Friedenswinter“, über Arbeitskämpfe, über Flüchtlingsproteste, über Aktionen gegen die Braunkohlenutzung. Auch für die Macher der Graswurzelrevolution gibt es „Muss-Themen“, über die unbedingt berichtet werden muss. Zuletzt war es die Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer, nun wären es eigentlich die Anti-G7-Proteste. Doch darüber ist in der aktuellen Ausgabe nichts zu finden. Der Erscheinungstermin lag ungünstig: Redaktionsschluss vor den Gipfelprotesten, Erscheinen danach. Das sind die Probleme von Monatszeitungen.

Für das Fehlen der Anti-G7-Proteste wird die Zeitungsleserin und der Zeitungsleser mit einem großartigen, ganzseitigem Comic von Andi Wolff entschädigt. Vor kurzem ist die Graswurzelrevolution vom Zweifarb- zum Vierfarbdruck auf der ersten Seite übergegangen. Jetzt wissen die Leser endlich, warum das nötig war.

Felix Werdermann hat früher auch für die Graswurzelrevolution geschrieben

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