Zwischen Ereignislinien

Mythen Das Schreibkollektiv Luther Blissett heißt nun Wu Ming. Der Roman „Altai“ ist so genial wie sein Vorgänger
Ausgabe 41/2016
Die Seeschlacht von Lepanto im 16. Jahrhundert
Die Seeschlacht von Lepanto im 16. Jahrhundert

Foto: imago/ United Archives International

Zahlreiche Kritiker und Leser waren im Frühjahr von der Neuauflage des lange vergriffenen Q begeistert (siehe Freitag-Krimi-Spezial 16/2016). Q sei „Reformationswestern, Revolutionskrimi und Spionagethriller“ in einem, schwärmte die Krimiexpertin Thekla Dannenberg. Der voluminöse historische Roman über die Bauernkriege und die europäischen Häretiker von Amsterdam bis Norditalien – eine Allegorie auf eine Geschichte der Linken – erlebt jetzt eine Fortsetzung. Das fünfköpfige, mittlerweile von Luther Blissett in Wu Ming umbenannte und aus Bologna stammende Schreibkollektiv hat mit Altai einen Roman veröffentlicht, der inhaltlich und personell an das Debüt Q anschließt und dem Erfolgstitel an Spannung und erzählerischer Raffinesse in nichts nachsteht.

Wieder geht es darum, Geschichte anders zu erzählen und eine Perspektive auf historische Akteure zu eröffnen, die in den Ereignislinien der „Mainstreamgeschichte“ häufig übersehen wird. Hintergrund des in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angesiedelten Romans sind die imperialen Ansprüche der Republik Venedig und ihre militärischen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich, die 1571 in der sagenhaften Seeschlacht von Lepanto gipfelten.

Dieses historische Ereignis wird von der italienischen Rechten und den Neofaschisten gern zur siegreichen Auseinandersetzung des abendländischen Westens mit dem islamischen Osten stilisiert. Angesichts des gespannten Verhältnisses des Westens zur Türkei hat dies derzeit noch einmal zusätzliche Aktualität. Wu Ming bricht diese klassisch-ideologische Lesart des Ost-West-Gegensatzes auf. Denn zwischen den großen historischen Blockfronten verbergen sich zahlreiche soziale, kulturelle und politische Nischen.

In Altai sind es die aus Venedig vertriebenen Juden, die in Istanbul – das im 16. Jahrhundert gegenüber allen Religionen weitaus freizügiger war als das christliche Abendland – eine neue Heimat gefunden haben. Nun versuchen sie, die historische Auseinandersetzung zu nutzen und mithilfe des militärischen Griffs des Osmanischen Reichs auf Zypern einen neuen Zufluchtsort im Mittelmeer für Juden und alle anderen Vertriebenen zu schaffen. Im Zentrum des Romans steht der schon in Q (unter dem Namen João Miquez) auftretende jüdische Bankier, Politiker und Intellektuelle Joseph Nasi, der wirklich existierte und nach seiner Vertreibung aus Venedig am Hof des osmanischen Sultans versuchte, für die jüdischen Gemeinden des Mittelmeers eine territoriale Heimat zu erkämpfen.

Neben höfischen Intrigen, Entführungen, der Belagerung von Städten und imperialen Ambitionen bietet der ungemein dicht und rasant erzählte Roman faszinierende Beschreibungen der bunten und gigantischen Metropole Istanbul. Aber auch der Dogenpalast, die Kanäle und die Folterkeller Venedigs kommen vor, an einigen Stellen werden Gewalt, Repression und Krieg im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum drastisch in Szene setzt. Das alles wird, wie bei Wu Ming üblich, in pointierten, kurzen Kapiteln in einem sich fortlaufend aufbauenden Spannungsbogen erzählt.

Faszinierend an den Romanen des linken Autorenkollektivs ist die so leichtfüßig daherkommende Fähigkeit, historische Persönlichkeiten in fiktionale Plots einzubauen, ohne dass es gekünstelt wirkt. Der in Berlin und Hamburg ansässige Verlag Assoziation A, der sonst vornehmlich für substanziell gute Sachbücher steht, plant, noch weitere der insgesamt sieben Romane von Wu Ming herauszubringen. Man sollte sie auf keinen Fall verpassen.

Info

Altai Wu Ming Klaus-Peter Arnold (Übers.), Assoziation A 2016, 352 S., 24 €

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