Identität – was kann das heute sein?

Beschneidungsdebatte Aus Anlass des aktuellen Beschneidungsstreits habe ich einige Überlegungen angestellt, um klarer zu sehen, worum es geht. Ich habe sie in vier Abschnitten angeordnet.

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  1. Identität und Alterität, Gleichheit und Differenz: die Unterscheidung der Moderne

In der gegenwärtigen großen Krise gerät, wie auch früher schon, die Moderne erneut unter Legitimationsdruck. Auf der einen Seite wird sie im Namen rückblickender Idyllisierungen vormoderner Gemeinschaften einmal wieder als ‚zersetzend‘ und ‚kalt‘ angegriffen; auf der anderen Seite gerät sie als halbherzig und inkonsequent in die Kritik, wenn immer die historischen Kompromisse bewusst werden, die sie im Einzelnen immer wieder mit älteren Lebensweisen und Vergesellschaftungsformen geschlossen hat.

Die Schwierigkeit, mit dieser doppelseitig vorgetragenen Kritik umzugehen, liegt auch daran, dass wir immer noch die spezifische Differenz, wie sie für die Moderne konstitutiv ist, unzureichend begreifen: Wir neigen heute noch dazu, zwei Unterscheidungen zu Unrecht miteinander zu vermischen: die Unterscheidung zwischen Identität und Alterität und die Unterscheidung von Gleichheit und Unterschiedenheit (Differenz) – also die zwischen einem singulären Individuum und einem anderen singulären Individuum und die zwischen der Gleichheit bzw. Unterschiedlichkeit von Gegenständen in Bezug auf etwas, was von ihnen ausgesagt werden kann. In der traditionellen Philosophie mit ihrer seit Platon dominanten Bedeutungstheorie der ‚Benennung‘ wird dies nicht unterschieden, wie seit Fichte, Schelling und Hegel vertraute Rede über das elementare Verhältnis von „Identität und Differenz“ belegt. Aber bleiben wir erst einmal bei der Unterscheidung zwischen diesen beiden Unterscheidungen, wie sie philosophiegeschichtlich Gottlob Frege durchgesetzt hat – denn so turbulent die Philosophiegeschichte auch verläuft und weiterhin verlaufen mag: Eine einmal tragfähig getroffene Unterscheidung geht nicht wieder verloren, so sehr sich auch spätere PhilosophInnen mühen mögen, ihr ihre anfängliche Brisanz zu nehmen.

Beide hiermit unterschiedene Unterscheidungen haben ihren jeweils spezifischen Sinn, der durchaus nicht trivial ist: die erste etwa bei Zwillingen oder im Fall eines auf einer bestimmten Identität begründeten Besitz- oder Erbanspruchs – im Französischen wird der deutsche „Personalausweis“, den wir vorlegen müssen, um uns als Konteninhaber unseres Bankkontos auszuweisen, als „Identitätskarte“ bezeichnet – und die zweite in allen zu Prädikationszwecken dienenden impliziten (Umgangssprache) oder expliziten (Wissenschaftssprache) Klassifikationssystemen, wie dies die traditionelle Redeweise vom genus proximum (Dimension der Gleichheit) und der differentia specifica (Dimension des Unterschieds) exemplifiziert.

In der Frage der Unterscheidung oder Gleichsetzung beider Unterscheidungen geht es um einen grundlegenden Zug, durch den sich nicht nur logische Funktionen voneinander unterscheiden lassen, sondern der vielmehr im Übergang von vormodernen zu modernen Verhältnissen eine entscheidende Rolle gespielt hat und diese immer noch spielt: Auch wenn sich die philosophische Debatte immer noch damit schwer tut, lassen sich Eigennamen nicht restlos in ‚Kennzeichnungen‘ (im Angelsächsischen als ‚descriptions‘ wiedergegeben und deswegen gelegentlich verwirrend als ‚Beschreibungen‘ rückübersetzt) auflösen: M.a. W. können wir können die Identität von jemandem (und davon abgeleitet auch von etwas) festhalten, ohne sie in dem Sinne „bestimmen“ zu können, dass wir sie an einer „Eigenschaft“ bzw. einer Konfiguration von Eigenschaften ‚festmachen‘ könnten. Anders gesagt, handelt es sich bei der Behauptung, dass etwa William Shakespeare mit Francis Bacon zu identifizieren sei, und der Behauptung, die von den „Walfischen“ auszusagt, dass es sich bei ihnen um Säugetiere handelt, um zwei ganz unterschiedliche und nicht aufeinander reduzierbare Aussageweisen. Das kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass wir durchaus sinnvolle Behauptungen formulieren können wie etwa „Francis Bacon ist der Autor der uns unter dem Namen William Shakespeares überlieferten literarischen Werke“: Dadurch wird nur die Reichweite der Identifikation eingeschränkt – der Begriff des „Autors von Werken“ unterstellt, dass es möglich ist, ein singuläres Individuum (bzw. u. U. eine Gruppe derartiger Individuen) als „Autor“ zu identifizieren, und zwar wiederum in einer offenen, nicht an eine bestimmte Prädikation gebundenen Identifikation.

Derartige Begriffe, die auf eine vorgängige Identifikation verweisen, gibt es eine ganze Reihe: Neben den Begriffen des Eigentümers, des Besitzers, des Gläubigers oder des Schuldners oder auch des Erben, gehören hierher auch eine ganze Reihe von Begriffen, die sich auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bzw. zu einem Gemeinwesen beziehen: also Begriffe wie Angehöriger, Mitglied, StaatsbürgerIn, Genosse/Genossin. Sie alle setzen voraus, dass es als solche identifizierbare und auch faktisch identifizierte singuläre Individuen gibt, die als Träger derartiger Verhältnisse auftreten. Dabei lassen sich beide Male zwei grundlegend unterschiedliche Modi festhalten, in den das Verhältnis von Identifikation und Prädikation praktiziert und gedacht wird: Die Singularität der Individuen kann als der Ordnung der Prädikationen untergeordnet gedacht werden – Holger Nilsson als Sohn von Nils Holgersson, der wiederum als Sohn des älteren Holger Nilsson usf. - oder aber als ihr eigenständig gegenübertretend – wen ich liebe, lässt sich nicht durch eine Konfiguration von Eigenschaften beschreiben und daher auch nicht ggf. durch ein ‚gleiches Exemplar‘ ersetzen.

Ich denke, der erste Modus entspricht dem grundsätzlich vormodernen „Ordnungsdenken“, in dem eine Vielzahl gesellschaftlicher Verhältnisse zum Ausdruckgekommen sind, in der Zugehörigkeit – zumeist als Abhängigkeit – personal bestimmt praktiziert und gedacht wurde. Der Übergang zu modernen Verhältnissen, wie er in der Neuzeit eingesetzt hat, auch wenn er noch nicht abgeschlossen ist, besteht darin, zum einen sachliche Vermittlungen an die Stelle der personal bestimmten Zugehörigkeiten treten zu lassen – also etwa die bare Zahlung mit Geld an die Stelle einer personalen Position – etwa als Tochter eines Elternpaares –, die den Zugriff auf ein Gut begründet –, zum anderen aber auch darin, sich von der Unterstellung frei zu machen, die singulären Individuen würden ein für alle Mal in dieser Ordnung aufgehen (als ein Sollen oder als ein Können).

Wie etwa die Marxsche Analyse der Lohnarbeit als ein auf sachlicher Vermittlung beruhendes Herrschaftsverhältnis gezeigt hat, bedeutet eine derartige Emanzipation aus vormoderner personaler Abhängigkeit keineswegs eine wirkliche Befreiung – ganz im Gegenteil kann sie zu einer Potenzierung von Herrschaft führen. Demgegenüber bleibt es ebenso problematisch wie hilflos, die mit dem expliziten Heraustreten der singulären Individuen aus allen vorgegebenen Ordnungen vollzogene „Atomisierung“ kommunitaristisch zu beklagen und die vormodernen, ganz überwiegend herrschaftlich geprägten Verhältnisse zu einer „World we have lost“ (Peter Laslett) zu romantisieren: Problematisch, weil in derartigen Konzeptionen die irreduzibel erkennbar gewordene Singularität der Individuen ignoriert (und dann im Zweifel wohl auch repressiv unterdrückt) wird – und hilflos, weil diese Freisetzung der singulären Individuen nicht nur historisch mit dem Aufstieg der kapitalistischen Produktionsweise zur Herrschaft in den modernen bürgerlichen Gesellschaften (die sich schon von Anfang an nicht nur in ihrem westeuropäischen Modell ‚entwickelt‘ haben) verbunden ist, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen – von der Sexualität bis zur globalen kulturellen Kommunikation – eine Dynamik entfaltet haben, deren Brechung allenfalls unter historischen Großkatastrophen vorstellbar ist, wie sie das kollektive Unbewusste der westlichen Kultur nicht zufällig seit Beginn der großen Krise des 20. Jahrhunderts beschäftigt haben.

Stattdessen wird es darum gehen, konkret zu begreifen, wie sich mit der „Entzauberung der Welt“ (Max Weber), wie sie konservative Kulturkritiker mit der Durchsetzung moderner Verhältnisse beklagen, zugleich eine erneute „Mystifikation“ eingesetzt hat: nämlich eine „Wiederverzauberung“, durch die sich sachlich vermittelte Herrschaftsverhältnisse als freie Verhältnisse zwischen ‚gleiche und freien‘ Individuen darstellen – nicht nur im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, sondern auch zwischen in neokolonial/imperialen Verhältnissen abhängigen und vorherrschenden Ländern oder zwischen einem in herrschaftlich geprägten Geschlechterverhältnissen abhängigem und einem in ihnen vorherrschenden Geschlecht. Diese „Verkehrung“ von „Emanzipation“ in eine neue Herrschaftlichkeit, die dann in der Tat ohne die „bergende Fessel“ der personalen Rückbindung in vormodernen Herrschaftsverhältnissen aus kommt, ist als solche zu erkennen und praktisch anzugehen. Dazu reicht es nicht, sich im Sinne einer oberflächlich gedachten „zweiten Moderne“ (Giddens und Beck) bloß reflexiv auf die bestehenden Verhältnisse zu beziehen und sie allenfalls mikroprozessual zu unterlaufen: es wird darum gehen, eine Umkehrung eben der Verkehrungen zu vollziehen, wie sie den sachlich vermittelten Herrschaftsverhältnissen der bisherigen Moderne zugrunde liegen, in der Praxis wie auch im Denken. M.a.W. ist nach Wegen zu suchen, der Herausforderung, welche die Moderne darstellt, entsprechend zu beantworten, in der auch ganz praktisch jede Identität von Individuen oder Gruppen als erfasste Singularität zu verstehen ist, die sich auf keinerlei vorgegebene ‚Substanz‘, auf keinerlei elementare Eigenschaft aller Identifizierbaren und Identifizierten berufen kann und will, indem ihre Identität (und deren Stiftung durch Identifikation) auf eine selbst noch moderne, der Singularität der Individuen entsprechende Weise zu praktizieren und zu denken. Auf dieser Grundlage ließe sich auch ein wirklich moderner Begriff der Befreiung denken, der sich nicht mehr „besitzindividualistisch“ auf die bloße Freisetzung der Privateigentümer von gesellschaftlichen Bindungen – je nachdem Vermögensbesitzer zu Kapitalisten und Arbeitskraftbesitzer zu deren Lohnarbeitern – reduzieren lässt, sondern die Freiheit von selbst gesellschaftlich konstituierten Individuen in von ihnen übernommenen, weitergeführten und umgestalteten Verhältnissen.

Es folgen noch drei weitere Abschnitte!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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