„Der Nobelpreis ist ein Anfang“

Freitag-Salon Der Soziologe und Philosoph Oskar Negt plädiert für eine europäische Strategie gegen die Allmacht der Märkte und das Gerede von unüberwindbaren Krisen

Jakob Augstein: Wenn wir über Europa reden, sollten wir mit den Grenzen anfangen. Finden Sie, dass alle niedergerissen gehören?

Oskar Negt: Nein. Grenzsetzung ist wichtig, sowohl im Denken als auch im realen Lebenszusammenhang. Wir stehen heute vor dem Problem der Entgrenzung. Das führt zu einer Art Ohnmacht. Menschen, die nicht mehr wissen, wo Innen und Außen ist, sind manipulierbar. Die Neubestimmung von Grenzen ist Aufgabe der Intellektuellen.

Thomas Morus schreibt in seiner Utopia, dass mit dem Setzen von Grenzen die Enteignung der Allgemeinheit beginnt.

Damals ging es um Schafe. Diese Einhegungen, Enclosures, waren der Ausdruck der neuen kapitalistischen Gesellschaft. Mit diesen Grenzen, Umzäunungen, die niedergerissen wurden, begann eine neue Produktivität, die aber eben auch eine Menschenverachtung in sich trug.

Jede Grenze ist aber auch die Scheidelinie der Identität.

Ja, das galt vor allem zwischen Ost und West. Der Ostblock war eine Abgrenzungsrealität für den Westen. Unser Sozialstaat hat sich vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz ausgebildet. Diese Konkurrenz ist weg und unser Sozialstaat verkümmert.

Trennen die Grenzen in Europa oder formen sie?

Das ist die wiederkehrende Frage in Europa – wo endet es, was ist seine Gestalt? Ich denke, die Türkei gehört dazu, aber auch Russland. Es genügt nicht, dass in Russland jetzt kapitalistisch gewirtschaftet wird. Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft bedingen einander nicht.

Haben Sie sich neulich über den Nobelpreis für die EU gefreut?

Es ist ein Anfang. Für ein neues Europa. Wir vergessen leicht, dass der Kontinent Jahrhunderte hindurch ein Schlachtfeld war. Da ist der Nobelpreis durchaus angemessen.

Kann man nicht auch sagen, dass wir unsere Kriege zwar nicht mehr im Inneren, aber dafür im Äußeren führen?

Ich verstehe den Friedensnobelpreis als Anerkennung für die bereits erreichte Friedlichkeit und gleichzeitig als Aufforderung. Der Rechtsradikalismus treibt die Angstpotenziale zusammen, den Angstrohstoff der Gesellschaft und er hat auch die Fähigkeit, daraus etwas zu machen. Die Friedensfähigkeit, die wir brauchen, hat etwas mit Sozialstaatlichkeit zu tun. Die Entwicklung eines gerechten Gemeinwesens ist die entscheidende Komponente für den gelingenden europäischen Einigungsprozess.

Können Gesellschaften aus der Geschichte lernen?

Es gibt kollektive Lernprozesse. Schon während des Westfälischen Friedens sind Verhandlungen über Toleranz, über die Trennung von Legalität und Moralität geführt worden. Diese Diskurse hatten praktische Auswirkungen. So zum Beispiel, dass die Inquisitionsgerichtsbarkeit allmählich verschwand. Menschen erschrecken darüber, was sie sich einander antun. Sie ziehen daraus institu-tionelle Schlussfolgerungen. Nach 1945 gab es eine parteiübergreifende Grundüberzeugung, dass wir die wirtschaftlich Mächtigen nie wieder ohne Kontrolle lassen dürfen. Die Italiener hatten in ihrer Verfassung sogar das Recht auf Arbeit festgeschrieben. Wir brauchen jetzt einen ähnlichen kollektiven Lernprozess. Europa wird sonst nicht zusammenwachsen.

Aber wir haben doch probiert, Europa über eine institutionelle Gründung zusammenwachsen zu lassen – den Euro.

Ein solcher Anfang hat sich als fatal erwiesen; es funktioniert nicht.

Diese Antwort erstaunt mich. Wir sehen doch den Erfolg dieses Ansatzes. Plötzlich spürt jeder, dass die griechische Politik uns etwas angeht.

Ja, Griechenland. Ich war auf Kreta und habe da Vorlesungen gemacht und festgestellt, dass wir hier alle viel mehr von Griechenland wissen als die Griechen selbst – also von dem, was wir uns unter Griechenland vorstellen, Wiege der Demokratie und so ... Man hätte für Griechenland und für eine Reihe osteuropäischer Länder rechtzeitig eine Art Marshall-Plan entwickeln müssen. Stattdessen hat man diesen Ländern das Schicksal der DDR zuteil werden lassen und die ganze Produktion unwirtschaftlich gemacht.

Was sagen Sie denn einem jungen Menschen in Spanien, der arbeitslos ist und Sie jetzt fragt, was er machen soll?

Die Regierungen müssen handeln. Wir brauchen einen Schutzschirm für die jungen Erwachsenen von, sagen wir, 500 Milliarden Euro. Das wäre eine Zukunftsinvestition. Im Augenblick wird gerade in Spanien gar nichts gemacht, um diese fatale Jugendarbeitslosigkeit zu beseitigen.

Was bedeutet es denn, wenn immer mehr Leute zu der Überzeugung kommen, dass das System sich selbst nicht an seine eigenen Regeln hält?

Wir dürfen uns nicht immer einreden, dass wir uns in einer unüberwindbaren Krise befinden. Das macht ohnmächtig. Ich habe keinen Einfluss auf die New Yorker Börse. Aber wenn ich Lehrer bin, habe ich großen Einfluss darauf, einen anderen Unterricht zu machen. Jeder kann verantwortungsbewusstes Handeln in bestimmten Bereichen entwickeln. Wir müssen aus Krisenherden Handlungsfelder machen. Max Weber spricht vom „Pazifismus der sozialen Ohnmacht“. Das ist eine depressive Situation, in der es kein Handeln mehr gibt, und das muss überwunden werden. Dafür brauchen wir eine europäische Strategie. Wir haben es mit einem Kapitalismus zu tun, der noch nie so frei von Barrieren gewesen ist. Adam Smith oder David Ricardo haben nie daran gedacht, dass der Markt die ganze Gesellschaft reguliert.

Erklären Sie doch bitte mal dieses Max-Weber-Wort.

Weber beschreibt ein Abhängigkeitsgefühl, er nennt das an anderer Stelle das stahlharte Gehäuse der Hörigkeit. Die Menschen wissen, dass sie in eine Situation der Abhängigkeit gezwungen werden und verbrauchen sehr viel Energie darauf, es in eigentlich unerträglichen Verhältnissen auszuhalten.

Darf man darauf mit Gewalt antworten?

Nein. Gewalt produziert nichts. Gewalt produziert nur Gewalt. Und Gewalt beschädigt die Subjekte. Sie beschädigt nicht nur andere Menschen, sondern die gewaltbereiten Menschen sind auch selber beschädigt.

Kann es nicht sein, dass wir die Gewaltfrage zu schnell für beantwortet erklären? Muss man sie nicht offen halten? Als andere Abgrenzungsrealität?

Ich bin lange genug in Zusammenhängen der außerparlamentarischen Opposition gewesen und das meiste wurde erreicht, indem Menschen mobilisiert wurden, ihre Empörung unterhalb der Gewaltschwelle auszudrücken. Ich war immer der Auffassung, dass bestimmte Gewaltaktionen, wie die der RAF, im Grunde nicht die Bewegung gestärkt haben, sondern die Gegenbewegung, den Polizeiapparat. Wir müssen die Empörung sammeln, die da ist. Stéphane Hessel hat sein Büchlein „Empört euch“ millionenfach verkauft. Das ist doch ermutigend.

Ja, aber das Buch spielt sich vor dem Erinnerungshintergrund der Résistance ab. Hessel vergleicht die Empörung gegen den Kapitalismus mit jener gegen die Nazis. Da steht also die Assoziation der Gewalt im Raum.

Ja, aber die Nazis haben nun gar keine Menschenrechte respektiert, gar keine Verfahrensrationalität, eigentlich nichts, was zivilisierte Menschen ausmacht. Das ist nun schon noch mal was anderes.

Warum ist eigentlich Occupy in einem so traurigen Zustand?

Die amerikanische Gesellschaft ist ein Sonderproblem. Und bei uns hatte die Bewegung viel weniger Resonanz. Die wirtschaftlich Mächtigen fanden die Zelte in Frankfurt doch eher lustig. Wir brauchen wieder eine außerparlamentarische Opposition. Erinnern wir uns daran, dass auf diese Weise in den siebziger und achtziger Jahren auch die innerparlamentarische Opposition gestärkt wurde.

Sie sind ein großer Vordenker der politischen Bildung. Vorhin haben Sie gesagt, Europa wächst nicht von alleine zusammen. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts musste der deutsche Nationalismus geradezu erzeugt werden. Ist das für Europa denkbar? Politische Bildung zu europäischem Patriotismus?

Politische Bildung soll nicht die Indoktrination einer politischen Meinung sein. Sie ist die Bearbeitung und Überwindung von Vorurteilen. Tatsächlich wächst die Vorurteilswelt äußerst bedrohlich. Kant hat einmal davon gesprochen, dass Urteilsbildung das Vermögen des Besonderen ist. Urteilskraft muss den eigenen Lebenszusammenhang mit einem größeren Gemeinwesen oder auch mit der globalisierten Welt in Verbindung bringen. Das kritische Vermögen des Menschen bedarf der Übung und der autonomen Entfaltung. Dazu ist Mut erforderlich. Sapere Aude. Habe Mut, dich deines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.

Sind wir für Europa zu ungeduldig?

Was jahrhundertelang geprägt wurde, wird nicht in wenigen Jahrzehnten überwunden. Dieser Prozess verläuft zu schnell und zu holperig. Vielleicht wollen die Leute, die das eingeleitet haben, die europäische Einigung unbedingt noch selbst erleben.

Aber manche Dinge entwickeln eine eigene Dynamik. Das haben wir bei der deutschen Einheit gesehen.

Umso schlimmer. Die Resultate sind nicht sehr eindrucksvoll. Die Treuhand war eine Art Mafia-Unternehmen. Das gesellschaftliche Eigentum wurde verschleudert. Es war für Deutschland falsch, die den Dingen innewohnende Zeit nicht zu berücksichtigen. Und es ist für Europa falsch, eine betriebswirtschaftliche Scheinrationalität zum Maßstab der europäischen Einigung zu machen.

Das ist der große Konflikt zwischen Angela Merkel und dem Bundesverfassungsgericht. Sie sagt, wir haben keine Zeit und Voßkuhle sagt, wir müssen uns die Zeit nehmen.

Es ist ja nicht immer so, dass kurze oder kurzfristige Entscheidungen besser sind als keine. Zeit lässt sich nicht beliebig raffen. Die Idee der Bildungsreformen nach Bologna besteht in der Verkürzung. Aber das Ergebnis ist, dass die Studierenden keine Zeit mehr haben, ein Buch zu lesen, also Vorräte anzulegen, von Begriffen, von Perspektiven. Lessing sagt, die Verbindung zwischen zwei Punkten in Erziehungs- und Bildungsfragen ist nicht die gerade Linie, sondern sind die Umwege.

Gibt es so etwas wie eine europäische Weltauffassung?

Das ist eine schwierige Frage. Aber die Aussage, ich bin keine Französin, ich bin keine Deutsche, sondern ich bin Europäerin, setzt doch einen weiten Umkreis von Denkweisen voraus, vielleicht auch von Gefühlsausdrücken. Die europäische Oper gibt es sonst nirgendwo. Die Zauberflöte wird auch in China gespielt. Aber ein autochthones Gebiet der Oper gibt es dort nicht. Nun kann man zwar sagen, das ist nicht so wichtig...

Doch, ich bin für die Oper!

So etwas zu pflegen, ist ein europäisches Identitätsstück. Oder die von Aristoteles und Cicero ausgehende Rhetorik bis hin zu Kleists wunderbarem Aufsatz über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: das ist europäisch! Civis romanus sum, ich bin ein römischer Bürger, dahin müssen wir kommen. Aber der wusste auch, was er an den römischen Bürgerrechten hatte! Im Augenblick legt die europäische Entwicklung den gegenteiligen Eindruck nahe. Den griechischen Jugendlichen wird ihre Zukunft genommen. Das zerstört die Identitätsbildung. Ich hoffe, dass wir keine Renaissance des Nationalstaats erleben – oder gar eine Vervielfältigung, wenn ich daran denke, dass so viele Regionen sich selbstständig machen wollen, die Katalanen, die Bretonen, und am Ende melden sich noch die Friesen.

Ich wäre unbedingt für ein autonomes Friesland.

Na gut, meinetwegen, also Freiheit für Friesland!

Oskar Negt, Jahrgang 1934, ist Sozialphilosoph und gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Vertretern der Kritischen Theorie. Zuletzt veröffentlichte er Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen und Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Beide Schriften sind im Steidl Verlag erschienen

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Jakob Augstein | Freitag-Veranstaltungen

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