Schönheit braucht Zeit

Wundersamer Alltag Warum finden wir eine alte Holzmühle ästhetisch, während wir neue Windräder als hässlich bezeichnen? Unser Kolumnist fragt sich, ob wir nur Unnützes schön finden können

Lauscht man an schönen Frühlingstagen den Ausflüglern, die auf dem Rad oder zu Fuß in der Landschaft unterwegs sind, dann kann man hin und wieder Sätze wie die folgenden hören: "So eine alte Windmühle, mit ihrem dicken Leib und ihren hölzernen, knarrenden Flügeln, die ist schön. Wie sie sich in die Landschaft einfügt, das ist sehr ästhetisch. Die früheren Erbauer von nützlichen Anlagen hatten noch einen guten Geschmack, hatten offenbar einen Blick für das Schöne. Ganz anders dagegen diese hässlichen Windräder, die an langen kahlen Masten montiert sind und unsere Landschaft verschandeln. Wie nackte weiße Spargelstangen stehen sie da, ganz und gar unästhetisch."

Irgendetwas ist merkwürdig an diesen Sätzen. Was ist denn tatsächlich schöner an einer alten Windmühle? Was hat die Windmühle, was das moderne Windrad nicht hat? Man könnte die Bauwerke ja auch anders beschreiben, die alte Windmühle kann plump und unförmig genannt werden, während die Windkraftanlage sich stolz, schlank und kraftvoll, ja sogar grazil in den Himmel streckt.

Zuerst das Urteil, dann die Beschreibung

Aber zuerst kommt das Urteil, und dann folgt die Beschreibung. Die alte Windmühle wird als angenehm empfunden, die Windräder stören. Deshalb wählen wir bei der Beschreibung der alten Mühle positive Begriffe, während uns beim Anblick der modernen Masten nur solche Worte einfallen, mit denen wir Ablehnung zum Ausdruck bringen.

Schönheit entsteht im Auge des Betrachters, so sagt man, und damit meint man, dass das ästhetische Urteil subjektiv ist. Aber schon Immanuel Kant schrieb in seiner Kritik der Urteilskraft, dass wir bei der Beurteilung von Schönheit doch erwarten, dass andere unsere Meinung teilen. Wenn einer ein Bauwerk schön findet und ein anderer hässlich, dann werden sie miteinander zwar vielleicht nachsichtig sein, aber im Stillen werden sie doch voneinander denken, der andere habe irgendwie keinen Geschmack.

Und über die Schönheit einer Landschaft, in der eine alte Mühle steht, werden sich die meisten Menschen ja auch schnell einig, genau wie wohl eine Mehrheit heute Windräder hässlich, wenn auch nützlich findet. Ein objektiver Grund lässt sich dafür wohl kaum finden. Vielleicht ist es so: Wenn Schönheit im Auge des Betrachters entsteht, dann braucht das seine Zeit, es braucht viele Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Vielleicht ist Schönheit nicht mehr als Gewöhnung, und das, was man von Kindheit an zu sehen gewohnt ist, ist ganz selbstverständlich schön. Alte Industrieanlagen, rostige Hochöfen und Kohlebunker aus Beton, die beginnen wir allmählich schön zu finden. Wer das nicht glaubt, sollte einmal den Landschaftspark in Duisburg besuchen.

Offenbar ist auch das nicht ganz richtig, denn wer sieht schon tagtäglich Windmühlen und Hochöfen? Man könnte einwenden, dass sie uns trotzdem vertraut sind, aus Schulbüchern und Filmen, von Gemälden und Fotografien. Sie sind Teil unserer Kultur und Tradition, sie sind durch millionenfache Darstellung ästhetisiert worden.

Ist nur das Unnütze schön?

Und außerdem sind sie inzwischen nutzlos. Niemand braucht noch Windmühlen und bald brauchen wir auch keine Kohlebunker und Hochöfen mehr. Sie stehen trotzdem noch in der Landschaft herum. Vielleicht kann auch nur das Unnütze überhaupt schön sein? Das wäre die endgültige Niederlage der Bauhaus-Avantgarde. Vielleicht müssen wir auch notgedrungen die nutzlos gewordenen Hinterlassenschaften unserer Vorfahren schön finden, um sie ertragen zu können.

Aber für unseren Umgang mit modernen Industriebauten ist dafür wenig gewonnen, denn ihre Nutzung steht ja erst am Anfang. Auf den Tag, da sie wieder abgeschaltet werden, können wir nicht warten, wenn wir uns an ihren Anblick gewöhnen wollen. Wahrscheinlich würde uns ein neuer, unbefangener Blick auf die schlanken Masten mit ihren drehenden Rädern gut tun. Wie sie sich recken und strecken, wie sie sich stolz in den Wind drehen, ist das nicht schön?

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Weltveränderung mit einem Wundern. Vergangene Woche fragte er sich, warum heute so viele technische Großprojekte scheitern.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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