Spuren lesen

Wundersamer Alltag Internet-Trolle und Higgs-Teilchen haben was gemeinsam: Man kann sie nie direkt beobachten, sondern sieht nur ihre Spuren. Ihr Wesen entsteht erst im Kopf des Betrachters

Was haben ein Internet-Troll und ein Higgs-Teilchen gemeinsam? Beide kann man niemals direkt beobachten, man sieht nur die Spuren von ihnen in der Wirklichkeit und braucht eine passende Theorie, um aus diesen Spuren auf ihre Existenz zu schließen.

In der Wissenschaft nennt man solche Objekte deshalb "theoretische Entitäten" und auch ein Troll ist so eine theoretische Entität: Man sieht ihn nie selbst, man sieht nur seine Spuren, meist Kommentare in Online-Medien, und die sehen von Weitem und in der Masse ganz genauso aus, wie alle anderen Spuren von anderen Kommentatoren, die keine Trolle sind.

Auch das ist bei Higgs genauso: In der Flut der Daten der Teilchenbeschleuniger gehen die Signale, die möglicherweise von Higgs-Teilchen stammen, zunächst unter. Man muss wissen, wonach man sucht, man muss die Daten richtig interpretieren können, um irgendwann mit einiger Sicherheit sagen zu können, dass es ein Higgs war, das da kurzzeitig auftauchte und seine Spuren hinterließ.

Man muss wissen, wonach man sucht

In diesem "richtigen Interpretieren" steckt auch die Crux, sowohl beim meistgesuchten Elementarteilchen, als auch beim meistgescholtenen Blogkommentator. Wer nicht weiß, wonach er sucht, wird nicht erkennen, dass es ein besonderes Exemplar gewesen sein muss, das da seine Wirkung hinterlassen hat. Bevor man mir nicht gesagt hatte, dass man manche Kommentatoren als Trolle bezeichnet, hätte ich keine Möglichkeit gehabt, sie zu erkennen. Ich hätte manchen als witzig, manchen als frech, manchen als taktlos, vielleicht den einen auch als dumm und den anderen als schlecht gelaunt bezeichnet. Ich hätte die vielen Einzelfälle gesehen und wäre nicht auf den Gedanken gekommen, sie alle als Exemplare ein und der selben Art zu bezeichnen.

Aber irgendwann ist die Community (nicht die kleine des Freitag, sondern die ganz große des ganzen Internet) auf die Idee gekommen, dass es da ganz besondere Wesen geben muss, die ein ganz besonderes Wesen haben müssen – und das man diese Wesen als Troll bezeichnen und mit ein bisschen Übung auch erkennen kann.

Diese Doppeldeutigkeit von Wesen, die es gibt, und dem Wesen, das jemand hat, ist „wesentlich“. Auch das Wesen ist zunächst versteckt und unsichtbar, es sind aber ganz besondere und wichtige Eigenschaften, die einer hat und die sein Verhalten bestimmen. Das macht ihn dann zum Exemplar einer ganzen Gattung. Obwohl sich Trolle nie getroffen haben, obwohl sie keine Troll-Schule durchlaufen und keine geheimen Handlungsregeln vereinbart haben, sollen sie alle zu dieser speziellen Gattung von Internetbenutzern gehören.

Nur schlecht gelaunt oder ein Troll?

Gibt es Trolle? Man könnte sagen, dass sie so viele klar erkennbare Spuren im Netz hinterlassen, dass es sie geben muss. Man könnte aber auch sagen, dass es viele ganz verschiedene Gründe für ganz unterschiedliche Menschen gibt, hin und wieder in schlechter Laune oder in besonders lustiger Stimmung etwas Taktloses, Dummes oder auch nur Unklares oder Missverständliches in die Kommentarfenster zu schreiben. Der Troll entsteht erst im Kopf des Lesers oder – noch genauer – in der Kommunikation der Gemeinschaft. Er ist deren Konstruktion, so wie es auch "die Rechten", "die Linken", "die Unternehmer" oder "die Harz4ler" sind. Das, was die Menschen in der gemeinschaftlichen Kommunikation vielleicht wirklich eint, ist das Bedürfnis, gemeinsam irgendwelche "Wesen" zu erfinden, die dann ihr Unwesen treiben, das man ganz genau erkennen und auf Grund kluger Theorien sogar erklären und vorhersagen kann, erstaunlicherweise umso besser, desto fremder sie uns bleiben – ganz genau so, wie es die Wissenschaftler mit dem Higgs machen.

Was die Trolle vom Higgs unterscheidet, ist, dass man die Teilnehmer von Internet-Diskussionen, wenn man will, doch auch einmal wirklich zu Gesicht bekommen kann, während den Wissenschaftlern ihr Higgs-Teilchen nie wirklich vor Augen kommen wird. Wenn das passiert, dann erlebt man zumeist eine ziemlich große Überraschung, weil der Troll "im wirklichen Leben" gar kein trolliges Wesen hat. Dann muss man seine Theorie eigentlich über den Haufen werfen, oder man meint – das ist einfacher –, dass man sich in diesem einen Falle wohl geirrt hat, dass er eine Ausnahme ist. Aber die Realität kann ja nicht nur aus Ausnahmen bestehen, und da draußen im Netz, da lauern schon die nächsten, die fremden Wesen, die ganz bestimmt und gut erkennbar doch wirklich und mit Sicherheit die richtigen Trolle sind.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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