Mali – und wieder ein neuer Krieg

Tuareg, Azawad Viele Ungereimtheiten, Halbwahrheiten und Unterschlagung von Fakten bestimmen die täglichen Presseberichte über den Krieg in Mali.

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Es wird geheuchelt, was das Zeug hält, Nebelkerzen werden geworfen. Natürlich ist ein primitiver Islamismus verabscheuungswürdig und viele Tuareg, vor allem jene, die durch Tourismus zu einem kleinen Wohlstand gekommen sind, bekämpfen die Islamisten in Nordmali. Doch bei dem Krieg Frankreichs in Nordmali geht es nicht um die Abwehr von bösen Islamisten oder um Demokratie, sondern es geht um handfeste wirtschaftliche Interessen, in erster Linie denen Frankreichs, um unschätzbare Rohstoffe, die im Norden Malis auf ihre Förderung warten.

Die Presse behauptet, die „Malier“ in Bamako begrüßten den Luftschlag der Franzosen. Doch Bamako liegt weit im Süden Malis. Begrüßen die Tuareg im Norden des Landes auch den Luftschlag auf ihre Städte und die Zerstörungskraft der anrollenden französischen Panzerkolonnen? Über eine Viertelmillion sind in den Kriegsgebieten auf der Flucht, teils auf den Weg in den Süden Malis, in die größeren Städte wie Bamako, wo sie ein neues Hungerproletariat bilden werden, aber auch weit mehr als Hunderttausend sind in die benachbarten Staaten Algerien, Niger, Burkina Faso und Mauretanien geflüchtet.

Es ist richtig, es gibt verschiedene Gruppierungen von Aufständischen in der Sahelzone. Es kämpfte nicht nur die säkulare Rebellengruppe „Nationale Bewegung für die Befreiung von Azawad“ (MNLA) für ein selbstbestimmtes Azawad, sondern es kämpfen auch verschiedene islamistische Gruppen für die Unabhängigkeit Azawads von Mali. Doch sind auch Tuareg (singular: Targi) und andere Ethnien Nordmalis wie Fulbe und Kunta islamischen Glaubens, wenn auch in unterschiedlich strenger Ausprägung, wobei aus kulturellen Gründen viele Tuareg eher einem soften Islam zuneigen und den Frauen eine bedeutende Rolle zugestanden wird. Trotzdem gibt es bei den verschiedenen Rebellengruppen viele Überschneidungen, Gruppen verbünden sich und überwerfen sich wieder. So ist der Führer der Gruppe Ansar Dine (Verteidiger des Islams) ein Targi namens Iyag Ag Ghaly, der schon bei den Tuareg-Aufständen in den 90er Jahren eine wichtige Rolle spielte. Doch gilt in Nordmali wie in anderen Ländern auch: Militanter Islamismus ist auch und vor allem der Ausdruck eines sozialen Gerichtigkeits- und Armutsproblems.

Auch was die Empörung gegen die Forderung nach dem islamischen Recht im neuen Staat Azawad betrifft, kann dem Westen nur Heuchelei vorgeworfen werden. Unterstützt man nicht gerade in Syrien jene Islamistengruppen im Kampf gegen Assad, die man in Nordmali bekämpft? Sind nicht bei den „Aufständischen“ in Syrien, die jubelnd im deutschen Fernsehen gezeigt werden, die gleichen schwarzen Salafisten-Fahnen zu sehen wie bei den islamischen Tuareg-Aufständischen in Nordmali? Dort gute Salafisten, weil gegen Assad? Hier schlechte Salafisten, weil gegen westlich ausgerichtete Zentralregierung in Bamako? Und fand man es nicht auch völlig unbedenklich als in Libyen nach dem Einsatz der Nato plötzlich Islamisten das Sagen hatten? Obwohl Libyen doch viel näher an Europa liegt als Mali? Nur ein paar Seemeilen von der zur EU gehörigen Insel Malta entfernt?

Der Staat Mali besteht aus vielen verschiedenen Ethnien. Allerdings zieht sich eine scharfe Trennungslinie zwischen den sesshaft-bäuerlichen Stämmen des Südens und den Nomaden- bzw. Halbnomadenstämmen des Nordens in den Sahara- und den Übergangsgebieten von Sahara- zu den Sahelgebieten. Zwischen diesen sesshaften und den nomadischen Stämmen besteht aus historischen Gründen eine tiefgehende Feindschaft.

Um den Konflikt, der jetzt im Norden Malis ausgebrochen ist, wirklich zu verstehen, muss man etwas in die Geschichte zurückblicken. Als im 19. Jahrhundert Frankreich seine Kolonialgebiete immer weiter in den Süden Afrikas vorschob, leisteten die Tuareg lange und erbitterten Widerstand. Erst 1917 konnte ein Friedensvertrag geschlossen werden. Die Tuareg ziehen seit jeher nomadisierend durch Gebiete der Sahara und des Sahels, verstreut über die Staaten Mali, Algerien, Libyen, Niger und Burkina Faso. Grenzen existieren für sie faktisch nicht und alle Regierungen tolerierten bisher ihre nomadische und grenzüberschreitende Lebensweise. Mit dem Entstehen der nachkolonialen afrikanischen Staaten in den 60er Jahren wurde es für die Tuareg schwierig, da schwarze Bevölkerungsmehrheiten die Regierungen stellten und die Tuareg in Mali und Niger marginalisierten. Dies hatte mehrere Aufstände zur Folge, da sich die Situation der nomadischen Völker durch Dürrekatastrophen verschärfte. Hungersnöte und Massensterben wurden von den Regierungen Malis und Nigers schlichtweg ignoriert, die Aufständischen bekämpft, Weideland in Bauernland umgewandelt, die Tuareg nicht an den Einnahmen durch den Abbau von Uran und anderen Bodenschätzen beteiligt. 1996 kam es zu Friedensverhandlungen, Selbstverwaltung und Katastrophenvorsorge wurden vereinbart, in Mali konnten sich die Tuareg selbst dezentral in Kidal verwalten. Diese Zusage war aber mehr den Umständen geschuldet als der Einsicht der Zentralregierung in Bamako. Denn tatsächlich war der Norden Malis schon lange der Kontrolle Bamakos entglitten.

Wie schon bei Ausbruch des Libyenkrieges 2011 befürchtet, zogen sich viele Tuareg, die in der libyschen Armee gedient und treu zu Muammar Gaddafi gestanden hatten, nach seiner Ermordung unter Mitnahme ihrer Waffen über den Niger in den Norden Malis zurück und destabilisierten das eh schon mehr als brüchige malische Staatswesen weiter. Am 6. April 2012 riefen die Tuareg-Rebellen im Norden Malis ihren eigenen Staat Azawad aus. Doch auch in Azawad wurde und wird zwischen verschiedenen Gruppen um die Macht gekämpft, zwischen Stämmen und verschiedenen mehr oder weniger religiösen Ausrichtungen. Da im Moment islamistische Kräfte die Übermacht zu haben scheinen, diente dies unter Beifall der anderen westlichen Staaten zur Begründung Frankreichs für einen Krieg gegen Azawad.

Tatsache ist, dass die Tuareg de facto schon lange Jahre unter eigener Verwaltung in Nordmali leben, dass sich die Tuareg auch durch Schmuggel aller Art finanzieren und in Nordmali wohl schon lange eine Art Scharia herrscht. Neu war nun die Ausrufung eines eigenen Staates. Dies hängt sicher auch mit der Frage zusammen, wer an den Bodenschätzen, die sich im Norden Malis befinden und viel größer sind als bisher vermutet, verdienen wird. Gehen die Einnahmen an die Zentralregierung, die eng mit Frankreich verbunden ist, werden die Tuareg wohl wieder leer ausgehen, wie schon die Erfahrungen mit den Uranminen im Niger und andere Beispiele zeigen. Dies dürfte auch der Grund sein, warum der Führer der Rebellengruppe Ansar Dine Anfang 2012 weitere Verhandlungen mit der Regierung in Bamako absagte. Viele Bodenschätze liegen im Tuareg-Rebellengebiet: Bei Kidal gibt es große Uranlager, bei Gao und im Tal von Tilemsi immense Phosphatvorkommen, des Weiteren werden große Erdgas- und Erölvorkommen unter dem Sand der Sahara in den Gebieten der Tuareg vermutet. Frankreich hat also sehr vitale Interessen in Nordmali und beste Beziehungen zur Zentralregierung in Bamako. Man darf davon ausgehen, dass im Falle eines Sieges das Fell des Bären – sprich Bodenschätze – schon unter den Siegern verteilt ist. Der jetzige kriegerische Alleingang Frankreichs will auch Frankreichs Ansprüche in seinen ehemaligen kolonialen Gebieten – auch gegenüber USA – sichern. Da unterscheidet sich die Mali- und Syrienpolitik Hollands in Nichts von der seines Vorgängers Sarkozy in Libyen. Und im Übrigen: Wer sich den Luxus einer Fremdenlegion leistet, will diese auch mal einsetzen.

An der Proklamation des neuen Staates Azawad zerbrach die schwarze malische Zentralregierung. Im März 2012 wurde der Präsident Malis durch einen Militärputsch zur Flucht gezwungen, dem die Putschisten vorwarfen, zu lax gegen die Sezessionsbestrebungen vorgegangen zu sein. Inzwischen wurde die Macht von den Putschisten an den malischen Parlamentspräsidenten Traoré für eine Übergangsperiode übergeben. Mit der Behauptung, die Rebellen sprich Islamisten setzten sich in Richtung Hauptstadt Bamako in Bewegung, bat dieser nun um ein militärisches Eingreifen Frankreichs. Dass die Kämpfer für die Sezession der nördlichen Gebiete die weit im Süden gelegene Hauptstadt Malis einnehmen wollten, erscheint völlig absurd und muss als Vorwand für den Beginn des Krieges gegen Azawad gesehen werden.

Doch hat der Mali-Konflikt noch einen weiter reichenden Aspekt. Man darf sich erschrecken, wenn in der SZ vom 15.1.13 unter dem Titel „Solidarität ohne Risiko“Daniel Brössler Stellung zum Krieg in Mali nimmt. Es ist in dem Artikel deutliche Kritik an der von Deutschland geübten militärischen Zurückhaltung zu lesen. Brössler ist der Meinung, wenn Deutschland seiner internationalen Verantwortung auch künftig gerecht werden will, darf das nicht so verstanden werden, dass künftig nur andere Staaten militärische Aufgaben übernehmen.

Nach Afghanistan soll Deutschland jetzt nicht nur am Hindukusch und in der Türkei gegen Syrien (Patriot-Raketen-Abwehrsystem) verteidigt werden, sondern auch in Mali? Bisher wird den Franzosen nur logistische Unterstützung angeboten. Überhaupt wird sich so mancher verwundert die Augen gerieben haben: Krieg in Mali? Gegen ein paar hundert Wüstenkrieger? In Mali, einem der ärmsten Länder der Welt, das bisher nur durch Hungerkatastrophen von sich Reden machte, muss Krieg geführt werden? Wo liegt denn Mali überhaupt? Auf diese Fragen wird von den Politikern sogleich die strategische Bedeutung von Mali betont: wie nahe es doch an Europa und wie gefährlich die Ausbreitung der Al Kaida im Maghreb für unsere westlichen Länder sei. Tatsächlich? Liegt da nicht noch die ganze Sahara zwischen Mali und Nordafrika? Sind da Libyen und Syrien nicht viel näher, wo man gerade die Islamisten an die Macht brachte oder bringt?

Mali, eines der ärmsten Länder der Welt und gleichzeitig das afrikanische Musterland in Sachen Demokratie, dem Westen immer zu Diensten. Mali erfüllte alle Vorgaben von IWF und Weltbank, „die Hausaufgaben wurden gemacht“, der Staat zog sich aus allem zurück, Bahn, Schulwesen, Krankenversorgung wurden privatisiert. Vor einigen Jahren lief auf dem Münchner Filmfest ein Film aus Mali („Das Weltgericht von Bamako“, 2006, Reg.: Abderrahmane Sissako). Darin wurde ein fiktiver Prozess gegen die für diese neoliberale Politik Verantwortlichen geführt. Es wurde ihnen vorgeworfen, Mali zurück in die Armut, in die Verzweiflung getrieben zu haben. Die Folge der Privatisierung war, dass die Bahn eingestellt wurde, sie hat sich halt nicht gerechnet (obwohl viele Dörfer, die an der Strecke lagen, vom Bahnverkehr lebten), dass ein funktionierendes Schul- und Gesundheitswesen praktisch nicht mehr existent ist. Wie immer hatten die ungeliebten Tuareg des Nordens am meisten unter dem Privatisierungsdiktat zu leiden, es kamen dort überhaupt keine Gelder mehr an.

Hier nun ein paar Fakten zu Mali (nach Wikipedia): Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 30 %. Sie dürfte sich in den letzten 15 Jahren verdreifacht haben. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung hat keinen sicheren Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 48 Jahren. Es gibt Mangelernährung sowie gravierende Probleme bei der Hygiene. Infektionskrankheiten wie Cholera und Tuberkulose treten regelmäßig auf. 74 Prozent aller mindestens 15 Jahre alten Personen sind Analphabeten. Das Land leidet unter einer Bevölkerungsexplosion, aber nur etwa vier Prozent Malis besteht aus Ackerland. Die Ernten sind immer wieder von Dürren bedroht. Im krassen Gegensatz dazu steht die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen von sage und schreibe 70 Prozent!

Bei diesen Fakten ist es doch klar, was das Land wirklich braucht: einen Krieg! Inzwischen irren über eine Viertelmillion Menschen im Land umher, viele flüchten sich in die Nachbarländer – der Presse zufolge auf der Flucht vor den Islamisten . Doch ist es nicht in erster Linie die Flucht vor dem nun ausgebrochenen Krieg? Vor den Bomben, die auf die Tuareg-Städte Azawads herunter regnen und den französischen Panzern?

Doch Mali ist nicht wirklich arm, nur die Menschen sind es! Es gibt in Mali Gold, Erdöl, Erdgas, Phosphat, Uran, Seltene Erden und andere Bodenschätze. Doch diesen Reichtum teilen sich andere…

Für jene, die noch etwas mehr erfahren möchten über dieses Gebiet Azawad hier ein Auszug aus meiner Reisebeschreibung von unserer Fahrt durch Nordmali vor knapp zehn Jahren:

Montag früh erscheinen wir pünktlich um 10 Uhr mit Passfotos, geknipst in einem Fotoatelier in Gao, auf dem algerischen Generalkonsulat. Wir werden in einen Warteraum gebeten und füllen die Visaanträge aus. Abdullah wird uns dort vorgestellt. Er will bis zur algerischen Grenze mitkommen. Mit ihm als Führer, der hier bei allen Tuareg bekannt ist, wollen wir es wagen, die Tanezrouft zu befahren. Sie stellt die kürzeste Verbindung zwischen Nord- und Schwarzafrika dar. Früher lief der gesamte Transsaharahandel über diese Piste. Aber dann kam es immer häufiger zu Überfällen durch Tuaregrebellen. Der Teil der Tanezrouft, der durch Mali führt, gilt als extrem unsicher. Touristen wurden die Autos abgenommen, sie wurden beraubt und einige sogar ermordet, zuletzt vor einigen Monaten drei Holländer. Wir rechnen uns trotzdem gute Chancen aus, unbehelligt nach Algerien zu kommen, da unsere Oldtimerfeuerwehr nicht gerade die Begierde von Rebellen wecken dürfte, unser Bargeld fast restlos ausgegeben und Abdullah ein Garant für unsere Sicherheit ist.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit fahren wir durch buschiges Sahelgebiet. Es ist klar, dass in diesem unübersichtlichem Gelände Rebellen erfolgreich operieren können. Immer wieder treffen wir auf Tuareg mit ihren Herden. Die Piste besteht nur aus einer schlechten Fahrspur und ist bis an die Seitenränder zugewachsen, d.h. kaum mal über eine längere Strecke freie Sicht. Wir kommen an abseits der Piste gelegenen Dörfern vorbei. Anderen Fahrzeugen begegnen wir an diesem ersten Tag nicht. Abends erreichen wir den Ort Almoustarat. Nachdem wir uns bei einem Posten gemeldet haben, leitet uns Abdullah an den Rand des Dorfes, wo wir in einer Art Gehöft, bestehend aus drei einfachen Lehmbauten, die Feuerwehr abstellen. Wie uns Abdullah erklärt, wohnt in diesen Gebäuden die Familie des Schullehrers. Er selber ist nicht da, aber seine Frau und der jüngere Bruder übernehmen es, uns eine der Lehmhütten für die Nacht zuzuweisen. Auf dem Sandboden breiten wir unsere Schaumgummimatratzen und Schlafsäcke aus.

Überall liegen im Sand alte, zum Teil schon erheblich beschädigte Transistorradiobatterien, mit denen der kleinste Spross der Familie, ein Dreijähriger, wie mit Bauklötzen spielt und sie mit Begeisterung in den Mund steckt, um darauf herumzukauen. Erfolgreich kann ich ein Honigbrot gegen die abgelutschten Batterien tauschen. Ob mein Versuch, die Mutter davon zu überzeugen, dass Altbatterien entsorgt werden sollten und kein geeignetes Spielzeug für kleine Tuareg sind, Erfolg hat?

Heute gibt es in unserer Feldküche Kuskus mit Dosenhühnchen. Da sich immer mehr Kinder um uns versammeln, von denen wir annehmen, dass sie zur Familie gehören, koche ich ein ganzes Kilo Kuskus. Bevor wir uns mit Abdullah an den Tisch setzen, lasse ich unserer Gastgeberin eine große Schüssel als Gastgeschenk von einem Kind überbringen. Die Schüssel verschwindet sofort im Haus und wird mir kurze Zeit später gereinigt zurückgebracht. Abdullah isst seinen Teller zwei Drittel leer. Zu unserer Überraschung gibt er ihn dann mit den Essensresten in die Gruppe von vielleicht sieben Kindern, die neben unserem Tisch im Sand sitzen. Diese stürzen sich mit einem wahren Heißhunger auf die wenigen Bissen. Da wird uns klar, dass diese Kinder wohl nicht zur Familie gehören, sondern aus dem Dorf sind und wirklich Hunger haben. Es ist noch genügend Kuskus mit Fleischsauce und Brot da, um alle satt zu machen. Zufrieden ziehen die Kinder nach dem Essen ab.

Abdullah zieht sich mit der Familie in eines der Lehmhäuser zurück um Tee zu trinken. Auch uns wird Tee angeboten. Plötzlich taucht aus dem Dunkel ein älterer Targi in einem blauen, Gandura genannten Umhang, auf, sieht uns verdutzt an und möchte wissen, wer wir sind und was wir hier machen. Wie sich herausstellt, ist das der Schullehrer, der über seine nächtlichen Logiergäste höchst erstaunt ist. Wie kommt eine rote Feuerwehr mit Weißen und einem Schäferhund in sein Gehöft mitten auf der Tanezrouft? Als wir ihn aufklären, dass wir heute Nacht seine Logiergäste sein werden, bricht er in lautes Gelächter aus und seine braunen Augen blitzen lustig.

Die Nacht im Lehmhaus haben wir gut verbracht. Wir bedanken uns bei der Familie für die Unterbringung, bezahlen mit einigen CFA. Mama-Targa bittet um ein paar Suppenlöffel, die sie gut gebrauchen könnte. Davon haben wir genug und können gerne aushelfen. Im Morgenlicht stellt sich Almoustarat als trostloser Ort mit einigen im Sand verstreuten Häusern und Gehöften dar. Es strömt Kargheit, Armut, Hunger und Hoffnungslosigkeit aus. Welch ein Widerspruch zwischen diesen erbärmlichen Lebensumständen und der darin beheimateten stolz-aristokratischen Bevölkerung, deren Verhalten auch gerne in Arroganz umschlägt. Ein Wunder, dass bewaffnete Banden diesen Widerspruch zwischen Anspruch und realen Lebensbedingungen mit Waffengewalt zu lösen versuchen?

Der zweite Tag auf der Tanezrouft unterscheidet sich auch landschaftlich nicht sehr vom ersten. Gegen Mittag kommt uns ein Fahrzeug entgegen, ein Pick-up, auf der Ladefläche mit aufgepflanztem Maschinengewehr. Der Fahrer und die drei Männer auf der Ladefläche sind in Zivil mit Uniformversatzstücken gekleidet. Alle tragen Turban. Ist das eine reguläre Militärpatrouille oder sind das die gefürchteten Rebellen? Ein Blick in Abdullahs Gesicht verrät nichts. Er hat ein Pokerface aufgesetzt und starrt nur geradeaus. Lange Zeit zum Nachdenken bleibt sowieso nicht. Schnell kommt das Fahrzeug heran und hält neben uns. Auch die Männer auf dem Pick-up scheinen verunsichert zu sein. Eine Münchner Feuerwehr mit einem Targi, der stur gerade zum Fenster raussieht, und ein Weißer, der ganz höflich sagt: „Bonjour! Ca-va? Gibt es ein Problem?“? Erst staunen sie, dann grüßen auch sie: „Bonjour! Ca-va! Nein, kein Problem. Weiterfahren! Bonne Chance!“, hier wünscht man unterwegs „Viel Glück!“ anstatt „Gute Fahrt!“. Und viel Glück hatten wir wohl auch bei dieser Begegnung. Erst später wird uns bewusst, dass es sich bei dieser Gruppe um „Tuareg-Soldaten“ des Rebellen Ibrahim Bahanga gehandelt haben muss, der hier das gesamte Gebiet kontrolliert und für die Anerkennung von Tuareg-Belangen kämpft.

Am Nachmittag kommen wir durch das Dorf Aguelhok. Man winkt uns anzuhalten. Eine Menschentraube steht um unser Auto und wir werden gebeten, eine kranke Frau nach Tessalit zur Krankenstation mitzunehmen. Wir erklären uns dazu bereit. Es dauert etwas, bis die Targa-Dame kommt. Zuerst wird ihr Gepäck ins Auto gereicht, dann laut ächzend und lamentierend steigt die ältere, schwarz gekleidete Targa bei uns ein. Dann steigt noch eine Tochter von ihr ein, und dann steigt noch eine Tochter von ihr ein und als wir protestieren, als auch noch ein Sohn zusteigen will, wird uns empört klargemacht, dass es unmöglich wäre, die Damen ohne männliche Begleitung reisen zu lassen. Also steigt auch noch ein Sohn mit ein. Die Targa-Dame legt ein recht robustes Benehmen an den Tag, gibt mir zu verstehen, dass sie mal das Fenster geöffnet, mal geschlossen haben möchte, ist verärgert, dass unser Rex die Sitze gegenüber belegt und sie dadurch nicht die Füße darauf stellen kann. Als wir abends Tessalit erreichen und die Familie bitten auszusteigen, weil wir hier beim Militärposten die Ausreiseformalitäten aus Mali erledigen müssten, kommen sie dieser Aufforderung nur recht unwillig nach. Wir haben das Gefühl, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Nur was?

Der Militärposten ist auf einem Hügel postiert. Nach Zahlung eines kleinen Cadeau bekommen wir alle nötigen Stempel in unsere Pässe. Tessalit ist eine kleine Oase mit Palmerien und in den Sand gebauten Lehmhütten. Es hält für Besucher immerhin eine richtige Herberge bereit. Der Besitzer führt uns in einen Raum, auf dessen Sandboden wir wiederum unsere Matten und Schlafsäcke ausbreiten können. Es wird uns ein Abendessen aus Reis, Fleisch und Gemüse bereitet, anschließend der obligatorische Tee in einem Glas serviert, das immer wieder von neuem gefüllt die Runde macht. Der Besitzer erzählt, dass Tessalit als zweiter Austragungsort des Tuaregfestivals in diesem Jahr seit langer Zeit wieder einige Gäste beherbergen konnte.

Der algerische Grenzort, auf den wir am nächsten Tag zuhalten, heißt Bordj-Moktar. Ein Sandsturm taucht die Gegend in ein unwirkliches, trüblich-gelbes Licht. Wir begegnen nicht einem Fahrzeug. Ibrahim weist in Tuaregmanier lässig mit dem Zeigefinger die Richtung. Doch dann, noch an die 15 km von der malisch-algerischen Grenze entfernt, erreichen wir einen quirligen Ort, der, wie uns Abdullah erklärt, Chabil heißt. Eine Unmenge Trucks und Lkws aller Größen, zum Teil neuwertig, stehen kreuz und quer. Die Fahrer sind ausschließlich in Gandura mit Gesichtsschleier gehüllte Tuareg, die in Gruppen zusammenstehen und sich unterhalten oder uns gelangweilt, an ihre Trucks gelehnt, beobachten. Junge Männer dienen als Laufburschen und tragen Teetabletts durch die Straßen. Hier ist wirklich was los. Viele der einfachen Lehmhütten tragen die Aufschrift „Restaurant“ oder „Café“. Wo sind wir denn hier angekommen? Auf keiner Karte finden wir diesen Ort vermerkt. Abdullah lässt uns anhalten und bittet um seine Entlohnung. Wir legen als Geschenk noch eine Lesebrille auf die CFA, da er sich am Abend vorher beklagte, den Koran nicht mehr richtig lesen zu können. Mit Vierzig lässt halt auch bei Tuareg die Sehschärfe nach. Er freut sich sehr über die Brille, steigt aus und bedeutet uns zu warten. Er hätte hier ein Haus und würde dort sein Geld deponieren. So haben wir Gelegenheit, das Treiben im Ort weiter zu beobachten. Abdullah erzählte uns, dies wäre ein Kreuzungspunkt vieler Pisten und Karawanenestraßen, von hier ginge es nach Norden, zu den algerischen Städten Tamanrasset, In Salah, aber natürlich auch in alle anderen Richtungen, nach Süden zu den Städten Gao, Timbuktu, Agadez und natürlich weiter zur Hafenstadt Cotonou in Benin, einem Hauptumschlagplatz für Drogen. Uns dämmert, das wir in ein Schmugglernest geraten sind. Ein gesetzter, älterer Targi nähert sich mit Abdullah unserem Wagen. Er wird uns als „Patron de Village“ vorgestellt. In einem der vielen Cafés werden wir von ihm zu einem Nescafé eingeladen. Nachdem wir höflich gefragt wurden, ob mit oder ohne Milch, die nächste Frage, ob wir vielleicht Dollar in Algerische France wechseln wollten. Wir handeln einen recht günstigen Kurs aus, doch als wir dann drei Zwanzig-Dollar-Scheine ausbreiten, ernten wir lautes Gelächter. Bedauernd wird uns mitgeteilt, hier wäre man nur an 100-Dollar-Noten interessiert. Man gibt sich noch besorgt um unsere Sicherheit, die Tanezrouft würde sich auf algerischer Seite stark auffächern und es wäre nicht einfach, die Piste zu halten. Man bietet uns einen Führer an. Als wir dankend ablehnen, werden wir mit dem nun schon so bekannten „Bonne Chance!“ verabschiedet. Abdullah kommt noch bis Sichtweite des Grenzortes Bordj-Moktar mit, bittet dann aussteigen zu dürfen, weist uns zum letzten Mal mit der Hand die Richtung und macht sich zu Fuß zurück auf den Weg nach Chabil oder wie immer der Ort hieß, den wir gerade verlassen haben.

Die Einreiseformalitäten in Bordj-Moktar können wir, nachdem die Mittagspause der Grenzposten beendet ist, relativ schnell hinter aus bringen. Stolz zeigen wir unser gültiges Transitvisum. Die Jungs sind gelangweilt und froh, sich mit uns einwenig unterhalten zu können. Bis zum Ende der Tanezrouft, also bis zu der Ortschaft Reggane, sind es von der Grenze aus 650 km Piste, die in gerader Linie von Süd nach Nord durch die Zentralsahara führt. Wir haben für diese Strecke drei Tage veranschlagt. Zuerst geht die Fahrt durch Bilderbuch-Sahara mit beidseitig großen Dünenfeldern, dann wird die Landschaft zur monotonen Wüstenplatte, unterbrochen von schon lange außer Betrieb gesetzten Solarlampen entlang der Piste. Ganz selten begegnen uns Lkws. Der auf der Karte als „Bidou 5“ eingetragen Orientierungspunkt ist ein Militärposten. Der „Poste Weigand“ existiert nicht mehr, ebenso ist der als Rastplatz mit Hotel ausgewiesene „Aire de Repos“ nur noch ein Militärposten. Wir dürfen dort nicht übernachten und bekommen zum Trost zwei Orangen geschenkt. Hier auf algerischer Seite erscheint uns die Tanezrouft sicher.

Aus: http://angelika-gutsche.de/2001_sahara_reisebericht.html


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Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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