Bedingungsloses Grundvertrauen

Essay Warum das sozialistische Menschenbild nicht humanistisch ist

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Wenn man das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) kritisiert, kann man einiger interessanter Antworten und Reaktionen gewärtig werden, die zu verstehen sich lohnen könnte. Lohnen würde sich ein Verständnis der Gegenposition freilich nur, wenn man ihre Prämissen, ihre Wertvorstellungen und auch - Gott behüte! - ihre Vorurteile und Voreingenommenheiten analysiert, um in einem grundsätzlichen Diskurs zu gemeinsamen Vorstellungen und Forderungen zu gelangen.

Noch immer bin ich nämlich nicht bereit, an der grundsätzlichen Humanität der BGE-Befürworter zu zweifeln. Es heißt zwar: "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", und mit dieser Methode lassen sich Kommunisten und Faschisten auch in den gleichen Topf werfen, in den sie gehören (angesichts einer neunstelligen Opferzahl ihrer Gewaltherrschaften), doch hat der Sozialismus/Kommunismus den großen Vor- und Nachteil, dass er aufgrund einer vermeintlich gut gemeinten Ideologie, positiv ausgedrückt: eines wohlmeinenden Idealismus, Menschen für sich gewinnt, die tatsächlich der Ungerechtigkeit auf dieser Welt ein Ende bereiten wollen.

Umverteilung richtig machen!

Diesen Wohlmeinenden ist das Konzept des BGE nur eines unter vielen, um die geschichtlich entstandenen Ungleichheiten in den Lebensverhältnissen der Menschen auszugleichen, Härten abzumildern, sich um die Armen und Bedürftigen zu kümmern und unangemessenen Reichtum, über alle Maßen gehende Verschwendung und unrechtmäßig erworbenen Besitz zugunsten der Schwachen einzusetzen. Die Güter der Welt werden mit den Teilen eines Kuchens verglichen: Die Mittel sind ja da, sie müssen nur richtig verteilt werden! Ebenso wie Mindestlohn, Sozialhilfe, Frauenquote etc. soll das BGE den Befürwortern ein Mechanismus sein, diese richtige Verteilung herzustellen.


Dies zu verstehen hemmt den Gegner sozialistischer Ideologie auf der einen Seite. Denn wer möchte schon gerne gegen Weltanschauungen argumentieren, die sich das Leid der Menschen zu Herzen nehmen und es lindern wollen? Wer möchte die Fahne des Kapitalismus schwenken, wenn der Sozialismus sich doch die hehrsten Ideale auf die seine geschrieben hat - obzwar er noch keine ernstzunehmenden Erfolge zeitigte? Zumal der Begriff "Kapitalismus" in der herkömmlichen Diskussion, so im zeitgenössischen Feuilleton, einen Ekel auslöst, gegen den Begriffe wie Sozialismus oder Kommunismus durch ihre jugendlich-rebellische, idealistisch-weltverändernde Konnotation ein Gegenmittel zu sein scheinen? Zum anderen aber kann der Anti-Sozialist von eben diesen Konnotationen auch angetrieben werden: Sind die Mittel, die in so guter Absicht eingesetzt werden, tatsächlich geeignet, die erwünschten Folgen zu zeitigen? Darüber hinaus: Sind sie moralisch unbedenklich, oder muss der Zweck sie heiligen?


Prämissen sozialistischen Denkens

Gerade die Argumentation pro BGE lohnt in dieser Hinsicht ein genaueres Hinschauen. Wir gehen davon aus, dass die BGE-Befürworter es tatsächlich als probates Mittel gegen die Ungerechtigkeiten in einer Gesellschaft ansehen. Ihre Prämissen lauten wie folgt:

1. Es gibt einen gesellschaftlichen Reichtum, von dem nicht in erster Linie die profitieren, die ihn hervorgebracht haben
2. Diejenigen, die über die Mittel (das Kapital) verfügen, sind unrechtmäßig an sie gelangt
3. Wir alle leben in einem Staat, der einen Wohlstand zur Grundlage hat, für den wir dankbar sein müssen
4. Wer einmal eine schlechte Ausgangssituation im Leben hatte, ist oft unfähig, durch Fleiß, Geschick, Intelligenz oder Glück gleiche Lebensstandards zu erreichen wie die Angehörigen einer begüterteren Schicht: Milieu ist Schicksal
5. Jeder hat ein Recht darauf, ein menschenwürdiges Leben zu führen
6. Die meisten Menschen sind schlecht - ihr Verhalten ist von Egoismus und Nutzenmaximierung geprägt; von alleine werden sie den Bedürftigen niemals etwas geben
7. Der Staat muss dafür sorgen, dass die durch die Gesetze der freien Marktwirtschaft hervorgebrachten Resultate weitgehend rückgängig gemacht oder zumindest ausgeglichen werden; die angestrebte Restauration bedeutet entweder eine Umverteilung von Reich nach Arm, bis eine weitgehende Nivellierung eintritt, oder die Ermöglichung eines Lebensstandards, der eine Existenz nicht nur über dem Grundniveau, sondern auch in Würde gewährleistet.

Mit der Annahme all dieser Prämissen liegt der Schluss nahe, dass ein BGE gerecht und sozial ist. Wer nicht von alleine auf die Beine kommt, dem muss geholfen werden. Und jeder BGE-Gegner wäre schlecht beraten, gegen diese Forderung zu opponieren, will er sich nicht als Menschenfeind verleumden lassen. Doch der Hase liegt ein paar Meter weiter im Pfeffer. Besteht doch nicht in der Forderung selbst das Unerhörte, sondern in der unausgesprochenen Konsequenz, die er für Sozialisten/Kommunisten/Etatisten/Kollektivisten bedeutet: Nicht der Einzelne ist moralisch gefragt und verantwortlich, sondern einzelne, d. h. die Regierung, ist in der Pflicht, die Besitzenden zu zwingen, wiederum Dritten zu helfen. Dass eine erzwungene Hilfestellung freilich keine moralische Tat sein kann, dass auch von einer Solidargemeinschaft nur die Rede sein kann, wenn die Solidarität als ethische Kategorie auf der Basis freier Willensentscheidung, humanistischer Tugend, charakterlicher Herzensgüte oder religiös motivierter Nächstenliebe ausgeübt wird, ist ebenso schnell ersichtlich wie es gar nicht erst zur Diskussion gestellt wird. Wer das BGE und andere staatliche Maßnahmen zur Umverteilung vertritt, beruft sich gerne auf eine Solidargemeinschaft, ohne dass je die Rede auf die damit notwendig einhergehende Freiwilligkeit käme.
So viel ist aber klar: So lange das BGE nicht auf freiwilliger Basis beruht, könnte es höchstens (wenn es nach wirtschaftlichen Gesetzen möglich wäre) seinen Zwecken dienen, die wiederum die unheiligen Mittel heiligen müssten; Solidarität und Nächstenliebe lässt sich damit nicht erreichen. Auch das Handeln der Regierung, die ja zum Ziele der gerechten Umverteilung andere zwänge, diese Umverteilung ins Werk zu setzen, ließe sich wohl kaum solidarisch oder moralisch nennen.


Der Mensch ist gut und schlecht zugleich

Das Hauptargument gegen die aufgeführten Prämissen dürfte nun bereits deutlich sein, und zwar betrifft es vor allem Punkt 6: "Die meisten Menschen sind schlecht - ihr Verhalten ist von Egoismus und Nutzenmaximierung geprägt; von alleine werden sie den Bedürftigen niemals etwas geben." Die daraus gezogene Konsequenz ist also, dass in einer Demokratie "die Mehrheit" diese meisten Menschen (also sich selbst) zwingen muss, für das BGE einzuzahlen, und zwar mit Steuermitteln. Niemand, der ernsthaft ein BGE fordert, würde es auf freiwilliger Basis beruhen lassen wollen, da sich freilich nur diejenigen beteiligen würden, die davon profitieren (was eine weitere Schlussfolgerung aus Punkt 6 ist). Also muss der Staat mit seinem Gewaltmonopol durchsetzen, dass - ähnlich wie es jetzt bereits mit der Sozialhilfe ist - die Menschen Steuern von ihrem Eigentum abgeben, um das Recht auf menschenwürdige Existenz den Bedürftigen auch zukommen zu lassen.

Dass dieses Recht existiert, bestreite ich nicht. Interessant ist nur, was seine Formulierung für verschiedene Menschen impliziert: "Ich habe ein Recht auf eine menschenwürdige Existenz" bedeutet für die einen: "Ich habe ein Recht darauf, dass andere mir Teile ihren Besitzes abgeben, auch wenn ich sie weder kenne noch irgendwas dazu beitrage, mein eigenes Leben menschenwürdig zu gestalten. - Mein Recht bedeutet die Pflicht für andere, für dieses Recht aktiv zu sorgen."

Für die anderen aber bedeutet das gleiche Recht so viel wie: "Ich habe das Recht, von anderen nicht an der Ausübung meines Lebens gehindert zu werden. Ebenso, wie andere mich nicht zu einer bestimmen Religion, einer sexuellen Präferenz oder einer Meinung zwingen dürfen, dürfen sie mich auch nicht zwingen, unter bestimmten Bedingungen zu arbeiten und meine Fähigkeiten und meinen Arbeitsfleiß auf dem Markt anzubieten. Mein Recht bedeutet die Pflicht für andere, mich in Ruhe zu lassen."

Nun ist es seltsam, dass BGE-Befürworter folgendes Argument ins Feld führen, wenn man sie mit dem Gedanken konfrontiert, die Menschen würden nicht mehr arbeiten, wenn sie eine Grundsicherung bekämen: Im Gegenteil, so die Befürworter; befreit von dem Existenzdruck und dem Stress, täglich für seine Grundbedürfnisse sorgen zu müssen, könnten die Menschen ihrer wahren Bestimmung nachgehen. Die Menschen sind, wenn man einmal das Joch der Selbstverantwortung von ihnen nimmt, so gut, kreativ und sozial, dass sie freiwillig und zwanglos Arbeiten verrichten würden, die der Gesellschaft zugute kämen. Unangenehme Arbeiten würden sowieso von Maschinen gemacht (wem gehören die eigentlich? Konzernen? Produktionsgenossenschaften?), und endlich würde die Gesellschaft in Schönheit und tätiger Nächstenliebe erblühen. Wer seine Grundbedürfnisse gesichert weiß, der könnte sich einmal wirklich um die Belange seiner Nachbarn und Freunde kümmern.

Es dürfte bereits klar geworden sein, wie sehr ein solches Menschenbild dem negativen widerspricht, das die BGE-Befürworter in Punkt 6 zur Begründung staatlichen Zwangs aufführen. Zum einen sind die Menschen schlecht, von Eigennutz und Selbstsucht getrieben, zum anderen aber sind sie gut, kreativ und sozial. Zum einen kümmern sie sich nicht um ihre Mitmenschen, zum anderen kümmern sie sich um ihre Mitmenschen. Zum einen muss man sie zwingen, während man sie zum anderen befreien muss.

Oder vielleicht doch eher gut?

Diese beiden Prämisse widersprechen einander. Meine optimistische Lebenseinstellung macht mich geneigt, sie fürs Erste wie eine mathematische Gleichung auf die positive Seite hin aufzulösen: Der Mensch an sich ist gut. Das würde allerdings bedeuten, dass er nicht gezwungen werden MUSS, um Gutes zu tun. Wenn man ihn in Ruhe lässt, wird er sich der Nöte seiner Mitmenschen FREIWILLIG annehmen. Diese freiwillige Nächstenliebe würde noch gesteigert, wenn es gar keinen Staat gäbe, der sich Umverteilung auf die Fahnen geschrieben hat (ohne sich freilich je zu praktizieren). Ohne einen Staat, den die Menschen noch immer als Rechtfertigung für mangelndes soziales Engagement nehmen können ("Ich zahle ja schon Steuern, wieso soll ich noch spenden?" - "Der Obdachlose da ist doch selber Schuld an seinem Schicksal, wir haben schließlich ein soziales Netz! Er ist nur zu faul zum Formularausfüllen!"), würden die Menschen die Notwendigkeit, in Not geratenen Menschen zu helfen, noch viel mehr einsehen, als sie es jetzt schon zum Teil tun. Auch Kirchen, Genossenschaften, gemeinnützige Vereine gibt es ja bereits jetzt. Zudem würden Versicherungen in die Lücke springen, die der fehlende Staat im Netz der sozialen Absicherung gelassen hat: Wo jetzt ein Monopolist die Menschen zu seinen Konditionen zwangsversichert, könnten die Menschen wählen, welcher Versicherung zu welchen Konditionen und ob überhaupt einer sie in Fragen Berufsunfähigkeit, Krankheit, Behinderung usw. sie ihr Vertrauen schenken. Wozu dann noch BGE?

Was geschieht aber mit dem, der vergessen hat, sich zu versichern, und nun "unverschuldet" in Not geraten ist, für dessen Hilfe sich aber zufällig niemand freiwillig auffinden lässt, kein Individuum, keine Familie, kein gemeinnütziger Verein und keine Kirche? Er hat wohl ein Anrecht auf unsere Hilfe, und wir haben eine moralische Verpflichtung, ihm zu helfen. Was jedoch weder wir noch er haben, ist das Recht, andere mit vorgehaltener Waffe zu zwingen, ihm zu helfen.


Bedingungsloses Grundvertrauen (BGV)

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Ich würde daher in diesem Falle wie im Fall des BGE, aber auch bei allen anderen Fragen des wahren, freien Sozialismus, dazu raten, von einem Bedingungslosen Grundvertrauen zu sprechen. Wir sollten davon ausgehen, dass die Menschen, wenn man ihnen die Freiheit gibt, für ihr eigenes Leben zu sorgen, sowohl in der Lage als auch willens sind, die Nöte ihrer Mitmenschen nicht nur zu sehen, sondern auch zu lindern. Dieses Güte ist bedingungslos, weil sie sich, anders als das BGE, nicht an die Bedingung knüpft, das Dritte gezwungen werden müssen. Sie ist bedingungslos, weil sie nur gedeihen kann, wenn es frei von Bedingungen ist: ohne Zwang, ohne extrinsische Motivation, ohne falsche Versprechen und auch ohne die nebulösen Begriffe wie "Solidargemeinschaft" oder "Soziale Gerechtigkeit". So, wie die Fahrgäste der Metro von Perth auch nicht den Staat brauchten, um einen zwischen Gleis und Waggon Eingeklemmten zu befreien - weil sie als menschliche Wesen der Anteilnahme fähig sind. Auf der anderen Seite bezieht sich das Bedingungslose Grundvertrauen auch auf die Kraft der Menschen, in eigener Regie das beste aus ihrem Leben zu machen, wenn man sie nur in Ruhe lässt. Auch diese Kraft ist bedingungslos. Wenn man nicht zugleich große Konzerne fördert und die Bedürftigen beraubt, kann man die Fähigkeiten der Menschen bewundern, sich mit tätiger Hand auch aus prekären Situationen zu helfen. Die Prämisse Nr. 4 vieler BGE-Befürworter, dass Milieu Schicksal sei und schlechte Startpositionen im Leben es dem Menschen für immer verunmöglichen, Großes zu leisten, ist pessimistisch und geringschätzig der Natur des Menschen gegenüber.

Viel humanistischer als jedes "sozialistische" ist hingegen das Menschenbild, das einerseits von der grundsätzlichen Güte, andererseits von der Selbstheilungskraft des Menschen ausgeht und in das tägliche Werk dieser Güte bedingungslos vertraut. Vielleicht könnten das Vorstellungen sein, die BGE-Befürworter und -Gegner irgendwann gemeinsam haben: das grundsätzliche Vertrauen in die Fähigkeiten des Menschen, die große Wertschätzung individueller Freiheit seinem eigenen Körper und Eigentum gegenüber, sowie die Einsicht, dass die gerechteste und effektivste Maßnahme, sozialen Frieden und Wohlstand zu erlangen, in der Achtung vor eben dieser Freiheit besteht, die allein der Boden ist, auf dem die bedingungslose Güte und Kraft des Menschen erblühen kann.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Kaiser

Schriftsteller und freier Journalist, Köln

Gunnar Kaiser

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