Von Wahnwichteln und Schlafschafen

Essay Nehmen wir einander ernst? Über den Nutzen und den Nachteil von Kampfbegriffen, Feindbildern und Gefühlen in der Auseinandersetzung um die Wahrheit

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Weltsicht und Sprache

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Und umgekehrt. Wie ich die Welt sehe, legt fest, welche Wörter ich verwende, welche Sätze ich verstehe, wie und mit wem und worüber ich überhaupt kommuniziere. Es ist ein Teufelskreis der Ignoranz, möchte man meinen. Unmöglich scheint es, den anderen von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen, mit logischen Argumenten und Fakten zur Einsicht zu bringen. Es scheint ja nicht einmal möglich zu sein, mit dem anderen auf einer gemeinsamen, sachlich-neutralen Ebene zu beginnen, geschweige denn mehr als nur den Austausch von ein paar Schlagwörtern bewerkstelligen, bevor die jeweiligen Selbstschutzmechanismen einsetzen, die vorurteilsfreie, um Einsicht und Wahrheitsfindung bemühte Rede und Gegenrede - der herrschaftsfreie Diskurs ist eben nur ein idealer. Der reale Diskurs sieht oft genug so aus, dass man schon unter Ideologieverdacht gerät, sobald man auch nur fordert, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Weltsichten einmal kritisch und unvoreingenommen zu prüfen.

Deswegen beginnen die Probleme bereits dort, wo man anfängt, Wörter und Begriffe zu benutzen bzw. nicht zu benutzen. Also am Anfang. Ob man sich auf das Phänomen, dass sich mehrere tausend Menschen an zentralen Plätzen in zahlreichen Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz seit Frühjahr 2014 montags treffen um, ja, was zu tun: zu demonstrieren? zu protestieren? Mahnwache zu halten? wofür? wogegen? - ob man sich auf dieses Phänomen mit dem Begriff "Montagsdemo", "Friedensdemo", "Mahnwache" bezieht, ob man ein "sogenannte" davor stellt, ob man es mit dem Adjektiv "neurechts" versieht ... mit dieser Entscheidung ist ja bereits eine Stellung bezogen worden, die dem Diskutanten eine bestimmte Rolle aufzwingt: die des Befürworters oder des Gegners. Objektivität, Unvoreingenommenheit, Unparteilichkeit scheint in dem Moment nicht mehr möglich zu sein, wo wir Worte verwenden. Also seit Anfang. Deutlich wird dies in den Vokabeln, die die einzelnen "Lager" ihren jeweiligen "Gegnern" zuschreiben. Allein schon dieser Sprachgebrauch insinuiert ja, dass es in der Diskussion zu diesem Thema sich feindlich gegenüber stehende, in Gruppen organisierte, Seiten gibt: Blöcke, Fraktionen, Sekten, Parteien, deren Weltsicht sich fundamental von der der anderen Seite unterscheidet und deren Aufgabe und Lebenszweck darin besteht, die gegnerische Mannschaft zu besiegen - durch Überzeugung, Überredung, Lächerlichmachen, Verfemung, Bestrafung, Gewalt und was dergleichen Mittel mehr sind. Die zur Verfügung stehenden Vokabeln markieren Zugehörigkeit ebenso wie Abgrenzung. Sie sind auf schnelle Identifikation sowie - das vor allem anderen - auf polemische Abwertung des Beschriebenen aus. Unter den zahlreichen Begriffen stechen vor allem "Wahnwichtel" sowie "Schlafschaf" hervor. Beide Begriffe bieten die Möglichkeit, neben bequemer Kategorisierung, der eigenen Seite sowie dem Feind den Grund für dessen "falsche" Weltsicht und den Grund für die eigene Überlegenheit spöttisch unter die Nase zu reiben: Wer Wahnwichtel ist, sieht Hirngespinste, glaubt an Ammenmärchen, ist naiv und leichtgläubig, seine Welt ist Blendwerk und bloße Fantasterei. Wer Schlafschaf ist, hält für wirklich, was eigentlich nur Illusion ist, wogegen andere bereits aufgewacht und erleuchtet oder zumindest aufgeklärt sind. Zudem lässt er sich wie ein Schaft von anderen für ihre Zwecke missbrauchen, ohne es selbst zu merken, wogegen andere sich bereits aufgrund ihres Aufgeklärtseins wehren.

Propagandaopfer und Trolle

Es dürfte deutlich sein, dass beide Zuschreibungen sich im Grunde gar nicht so stark voneinander unterscheiden, finden sie ihre Gemeinsamkeit doch in der Bewertung dessen, was die andere Seite für real und relevant hält, als irreal und irrelevant. Deutlich wird dies z. B. in der Diskussion um die Vorgänge des 11. September (wer die offizielle Version anzweifelt, sieht Hirngespinste; wer der offiziellen Version Glauben schenkt, ist Opfer der westlichen Propaganda) oder von Chemtrails. Deutlich wird mit der Verwendung derartiger Bezeichnungen zudem, dass eine echte Diskussion, der es um Aufklärung und Wahrheit zu tun ist, entweder nicht gewollt ist oder sehr schnell in Polemik mündet, wenn das Ziel, die Überzeugung des Gegners, nicht möglich scheint. Und dies ist regelmäßig sehr schnell der Fall. Aus einem einfachen Grund: Der Gegner möchte und kann nicht von etwas überzeugt werden, von dessen Falschheit er gleichzeitig seinen Gegner überzeugen will. Denn die zugrunde liegende, mehr oder weniger unbewusste Grundüberzeugung lautet: Dies ist meine Welt, auf der mein Leben und all meine Äußerungen, Gedanken und Gefühle aufbauen. Wer diese Welt zerstören will, kann gar kein Freund der Wahrheit sein, sondern muss ein gemeiner Mensch sein, der entweder dumm und unwissend ist oder sogar von anderen Mächten für sein wahrheitsverschleierndes Teufelswerk belohnt wird. Diese Auseinandersetzung endet typischerweise in der gegenseitigen Beschuldigung, entweder Propagandaopfer oder ein bezahlter Troll zu sein.

Der kleine Unterschied - Mehrheit und Minderheit

Der Unterschied in den skizzierten Sichtweisen und in der Verwendung von Begriffen wie "Wahnwichtel" oder "Schlafschaf" liegt allerdings in der Quantität der Versicherung über die eigene Weltsicht. Jeder Mensch braucht eine Möglichkeit, sich der Wahrheit des eigenen belief systems zu versichern. Die "Schlafschafe" vertrauen dabei im Grunde genommen nicht mehr als der Mehrheit. Da die meisten Menschen (des aufgeklärten Westens) so denken wie wir, muss unsere Weltsicht richtig sein. Wissenschaft, Medien und Politik, die ja auf diesen Mehrheiten gründen, richten sich nach diesen und geben mehr oder weniger akkurat die Sichtweise der Mehrheit wieder. Wäre unsere Sicht falsch, dann wäre alles falsch. Da dass nicht sein kann (weil das nämlich zu abenteuerlichen Folgen führen würde!), haben wir Recht! Die "Wahnwichtel" hingegen haben ihr Vertrauen in die Mehrheit verloren - falls sie es je besaßen. Zu glauben, dass das wahr ist, was die Mehrheit für wahr hält, ist bereits ebenfalls eine Illusion. Wissenschaft, Medien und Politik sind nur vorgeblich an Wahrheitsfindung interessiert, sie dienen in erster Linie den Interessen einer Minderheit. Da der gesamte Schatz unserer Weltsicht über kurz oder lang aus diesen Institutionen gespeist, also durch sie konstruiert wird, ist die Sichtweise der Mehrheit notwendigerweise falsch. Weil das so ist und dies zu abenteuerlichen Folgen führt, können wir auch das Schlimmste nicht ausschließen!

Platons Höhle, Truman und die Matrix

Seltsamerweise scheinen die großen mythischen Erzählungen der Menschheit, vom Schleier der Maya und Platons Höhlengleichnis über pietistische Bilder vom breiten und vom schmalen Weg, den Erkenntnistheorien Kants und Schopenhauers, dem radikalen Konstruktivismus bis zu Matrix und zur Truman Show, zu Cronenbergs eXistenZ und Bertoluccis Der große Irrtum, immer wieder davon zu künden, dass der Mehrheit eben nicht zu trauen ist. Unsere Welt ist ein Konstrukt oder eine Illusion, und nur der Eingeweihte gelangt mithilfe von kritischem Denken, Mut, Kampf, Gnade oder Erleuchtung zur Wahrheit. Ebenso erzählen diese Geschichten immer wieder von dem Gelächter derjenigen, die in der Höhle verblieben sind. Wer die Idee des Guten einmal gesehen hat und in seine frühere Welt zurückkehrt, wird Verachtung und Hohn ernten - was bleibt den in ihrer Beschränkung Gefangenen anders übrig, als jemanden mit Spott zu überziehen, der nicht nur von einer anderen Welt erzählt, sondern ihre Welt sogar als unwirklich, als Abklatsch, gar als Gefängnis bezeichnet? Wie anders kann man sich gegen die Anmutung wehren, als lebenslanges Opfer bezeichnet zu werden, als durch Abkanzelung und Polemik? Als dadurch, hinter der Weltsicht des Befreiten nur Wahnsinn zu vermuten?

Das wirklich Seltsame liegt darin, dass Diskutanten, die ihre Gegner mit dem Begriff "Wahnwichtel" aburteilen, nicht nur vom Höhlengleichnis gehört und Matrix gesehen haben, sondern dass sie sie auch für in ihrer Grundaussage wertvolle geistige Erzeugnisse halten. Im Grunde stimmen die meisten der Theorie zu, dass unsere Welt konstruiert ist und wir durch verschiedene Mittel erst dahin kommen, diese Konstruktion als solche zu erkennen. Es kommt allerdings darauf an, auf welche Seite man sich selber sieht. Allerdings ist es befremdlich, wie leicht es trotz dem fällt, Andersdenkende als Wahnsinnige zu verurteilen. Es scheint eine größere Befriedigung darin zu liegen, eine Art Schutzmechanismus, um sich nicht ernsthaft mit der Gegenseite auseinander zu setzen. Da diese Auseinandersetzung nicht nur als fruchtlos, sondern sogar als gefährlich (was die Konsequenzen für die eigene Existenz betrifft) betrachtet wird, muss eine Taktik her, sich der Diskussion zu verweigern. Begründet wird diese Verweigerung zum einen mit der angenommenen Abstrusität der Theorien (Verschwörungstheorien!), zum anderen mit dem angenommen Fehlen von Argumenten. Die "Wahnwichtel" haben gar keine Argumente, sondern sind so sehr in ihrem Fantasiegebäude gefangen, dass sie nicht sehen, dass die Wissenschaft und die Medien längst plausible Antworten auf ihre Probleme und Fragen gegeben haben.

Warum seid ihr so dumm?

Andersherum funktioniert diese Mechanik natürlich auch. Die "Wahnwichtel" werfen den "Schlafschafen" zwar nicht vor, wahnsinnig zu sein, aber für sie sind ihre Gegner eben arme Propagandaopfer, wenn nicht sogar Mitwisser und Profiteure. Es stellt sich ihnen die Frage, ob man wirklich so dumm sein kann, bei dem Film Truman Show wissend zu lächeln, wenn die beiden dumpf in den Bildschirm blickenden Parkhauswächter wissend lächeln, wenn Christof sagt, die ganze Welt sei eine Illusion - ohne das Gesehene auf sich selbst zu beziehen. Kann man wirklich so dumm sein, die offizielle 9/11-Version unkritisch zu akzeptieren, oder tut man das aus Angst vor dem Urteil, anti-amerikanisch zu sein? Kann man wirklich so dumm sein, das Verhalten der israelischen Regierung verteidigen zu wollen, oder tut man das aus Angst vor dem Urteil, antisemitisch zu sein? Kann man wirklich so dumm sein, jemanden als "glühenden Antisemiten" zu beschimpfen, weil dieser das Verhalten der Federal Reserve Bank kritisiert, oder unterliegt man einfach einem Pawlow'schen Reflex der linksliberalen Kulturindustrie, die die Taten der Geschwister Scholl, Martin Luther King und Nelson Mandela preist, aber blind für den drohenden Faschismus im eigenen Land ist?

Kann man den anderen überzeugen?

Der Vorwurf, der Gegner habe gar keine Argumente, sehe die falsche Logik in seiner Argumentationskette nicht ein, gehe von falschen Voraussetzungen aus oder sei nicht im Besitz der richtigen Fakten, wird von beiden Seiten in die Waagschale geworfen. Die Sicht des anderen zu diskreditieren ist zudem äußerst einfach und bedarf keiner logisch konsistenten Vorgehensweise. Weiter kommt man in einer Diskussion mit solchen Vorwürfen und Diskreditierungen freilich nicht, dies scheint allerdings auch nicht beabsichtigt. Das führt dazu, dass man sich entweder in seine Gruppe Gleichgesinnter zurückzieht oder das Nachdenken und Begründenwollen ganz einstellt. Mit einer solchen Einstellung ist nichts gewonnen außer vielleicht dem eigenen Seelenfrieden und ein bisschen mehr Zeit für andere Dinge, die man sonst vergeblich mit dem Kommentieren von facebook-Posts verbracht hätte. Es ist unmöglich, den anderen von seiner Meinung zu überzeugen, falls dieser nicht schon eine gewisse Neigung hegt, unvoreingenommen zuzuhören und alles neutral und kritisch abzuwägen. Die Zeit dafür und die innere Ausgeglichenheit besitzen die wenigsten. Wir gehen oft von einer falschen Grundannahme aus, wenn wir uns der Diskussion mit Andersdenkenden stellen: Wir denken, Argumente und Fakten könnten etwas an der Weltsicht des anderen verändern. Wir denken: Wüsste der andere doch nur die gleichen Dinge, die ich weiß! Hätte er nur gesehen, was ich gesehen habe! Ihm fehlen einfach die Fakten zu den Segnungen / Schattenseiten des Kapitalismus / Kommunismus etc.! Aber die Fakten sind ja da und an Möglichkeiten, an sie heranzukommen, mangelt es uns nicht. Es kommt allerdings darauf an, welche Fakten man wahrnimmt und wie man sie gewichtet. Und dies wiederum ist nicht faktenabhängig. Fakten und Argumente können die Weltsicht nicht verändern, weil diese Weltsicht auch nicht durch Argumente und Fakten entstanden ist. Wie wir die Welt sehen, hängt allein davon ab, welche Erfahrungen wir gemacht haben und welche Gefühle wir mit ihnen verbinden.

Gefühle statt Argumente

Wenn wir gute Erfahrungen beispielweise mit Autoritäten gemacht haben, wenn uns Lehrer und Eltern geachtet haben, dann sind wir eher bereit, eine von Autoritäten gestützte Meinung zu übernehmen - unbewusst, versteht sich. Wenn wir mit Wissenschaften gute Erfahrungen gemacht haben - weil wir z. B. von einem Arzt wirksam behandelt wurden oder weil eine Universität unsere Karriere gefördert hat, dann sind wir weniger bereit, das ganze wissenschaftliche Weltbild und die Neutralität der Wissenschaft anzuzweifeln. Wer gute Erfahrungen mit Zeitungen oder Fernsehsendern gemacht hat, weil er vielleicht einmal in einer Redaktion gearbeitet hat und mit den Menschen dort gut klargekommen ist, zudem von diesen Institutionen ein monatliches Gehalt überwiesen bekommen hat, der wird schneller davon überzeugt sein, dass das, was in der Presse (freilich nur in unserer!) propagiert wird, auch den Tatsachen und ihrer Relevanz entspricht. Reduziert werden kann das vielleicht auf die Formel: Wer mit dem bestehenden System gut zurecht kommt, weil er davon profitiert, der wird nicht geneigt sein, seine Grundannahmen anzuzweifeln. Auf der anderen Seite gilt natürlich das Gegenteil. Hier sind es eher die Menschen, die mit dem System schlechte Erfahrungen gemacht haben, die bereit sind, die herkömmliche Wissenschaft, Medien, Politik, Medizin, Geldsystem, Gesellschaftliche Verhaltensweisen, Werte, institutionalisierte Religion etc. anzuzweifeln. Sie sind offener für alternative Entwürfe, was sie anfällig macht selbst für Spinnereien und Betrug. Das Problem ist nur: Wer will sich anmaßen, zwischen Spinnereien und alternativen Wahrheiten zu unterscheiden, wenn es keinen Maßstab mehr gibt - auch nicht den des gesellschaftlich Akzeptierten? Wer sogar diesen Maßstab als Propagandainstrument anzweifelt - wie es die "Wahnwichtel" (in unheiliger Allianz mit Platon, Buddha, Jesus ...?) tun, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen. Wenn es also nicht möglich ist, Fakten und Argumente zu verwenden, um den anderen auf seine Seite zu ziehen, weil eben das eigene Weltbild gar nicht durch Fakten und Argumente entstanden ist (zumindest nicht in erster Linie - Fakten dienen oftmals nur als Unterstützung des eh schon Gewussten, während andere Daten gar nicht wahrgenommen oder als Propaganda verworfen werden), sondern durch Gefühle: Ist es dann nicht auch sinnvoll, sich auf die Gefühle zu beziehen, um wirklich etwas zu erreichen? Wenn man die Diskussion über das Geschehen auf der Welt und seine Interpretation nicht gleich aufgeben will: Ist es dann nicht sinnvoller, mit seinem Diskussionsverhalten dem anderen Gefühle zu ermöglichen, die eine positive Erfahrung mit der eigenen Weltsicht ermöglichen? Das klingt ein bisschen nach Manipulation - ich mache dir gute Gefühle, lulle dich ein und überrede dich hinterrücks. Gemeint ist freilich eine auf der einen Seite neutrale, ausgewogene und um Objektivität bemühte Sprache, die sich auf Polemik und ad-hominem-Argumente gar nicht erst einlässt.

Auf der anderen Seite aber vor allem ist es sinnvoll, nicht mit dem Willen zum Sieg, zur Überwältigung oder gar Vernichtung des Gegners aufzutreten, ja den anderen gar nicht erst als Gegner zu betrachten, sondern als Partner, als Weggefährten auf dem gemeinsamen Weg zur Wahrheit. (Ob der andere diese Einladung annimmt, liegt freilich an ihm - diese gewaltfreie, ja liebevolle Kommunikation muss zudem ganz ernst gemeint sein und nicht als geschicktes neues Manipulationsmittel daherkommen.)

Glaubwürdigkeit

Dies disqualifiziert freilich Begriffe wie "Wahnwichtel" oder "Schlafschafe", weil sie signalisieren, dass man die Argumente des anderen nicht ernst nehmen wird, sondern den Grund kennt, warum er so in seinem Denken gefangen ist. Es schließt ebenfalls aus, den anderen als westlich-östliches Propagandaopfer oder als Troll zu bezeichnen - selbst wenn man der Auffassung ist, dass er es ist. Es wäre dann wohl besser zu schweigen als auf diesen Selbstschutzmechanismus zurückzugreifen, weil dieses Vorgehen Gefühle vermittelt, die die "Fronten" verhärtet - die es dem "Kontrahenten" unmöglich machen, sich aus seiner Ecke herauszubewegen. Man kann dies freilich als "esoterisch" etc. aburteilen, wenn man dazu nicht bereit ist. Man muss darauf nicht eingehen. Was aber sowohl der Diskussion als auch den Teilnehmern und auch den Beobachtern am meisten förderlich ist, ist ein Verhalten, das von einer friedfertigen und wertschätzenden Haltung zeugt - im Sinne genau der Werte, die zu verteidigen und zu vertreten man angetreten ist. Bislang mithilfe von Argumenten und Fakten, die jedoch beim anderen nicht ankommen können, ebenso wenig wie seine bei einem selbst ankommen. Was allerdings ankommt, ist die eigene, in Wort und Tat an den Tag gelegte Glaubwürdigkeit. Eine ruhige und besonnene Art, die von einer gefestigten Überzeugung, aber auch von dem Willen ernsthafter Auseinandersetzung zeugt sowie von dem Glauben , dass die Wahrheit schließlich doch zum Vorschein kommen wird.

Vielleicht ist das mehr wert, als immer neue aburteilende Begriffe zu erfinden, Fakten auf Fakten zu häufen, mehr Likes für seine Kommentare und Posts zu haben als der andere oder sich einen Aluhut zu basteln. Erst dann kann sich der andere wirklich frei dazu entscheiden, Argumente und Fakten als solche anzunehmen und zu prüfen. Vielleicht auch mit überraschendem Ausgang für beide Seiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Kaiser

Schriftsteller und freier Journalist, Köln

Gunnar Kaiser

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