Eigentum verpflichtet. Zu Präventivkriegen

Neokolonialismus? Wie gelingt es der wirtschaftlich-politischen Elite immer wieder, eine Politik zu verfolgen, die den Interessen der Bevölkerungsmehrheit zuwiderläuft?

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Im Auslandseinsatz
Im Auslandseinsatz

Foto: Ole Kruenkelfeld/Bundesregierung-Pool via Getty Images

Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz wurde bekannt, dass die Afrikanische Union eine Liste von Zielpersonen erstellt hat, die liquidiert werden sollen. Auf der Liste stehen hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft der westlichen Welt, die verschiedener Kriegsverbrechen, schwerer Menschenrechtsverletzungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden. Dazu zählen die Autoren etwa weltweite Angriffskriege und Folter, Spekulation mit Nahrungsmitteln und „Landgrabbing“, aber auch Apartheid- und Besatzungspolitik sowie neokolonialistische Ausbeutung allgemein. Die Liste soll etwa 400 Namen von Staats- und Regierungschefs, von verantwortlichen Vorständen von Konzernen und Banken wie auch von Spekulanten umfassen.

Die Absurdität dieser Meldung ist offensichtlich. Warum eigentlich? Todeslisten existieren ja, Menschen werden in staatlichem Auftrag liquidiert. Wenn sie der westlichen Führungsmacht gestattet sind, können sie nicht an sich geächtet sein.

Der erste Grund liegt auf der Hand: Außer den wirtschaftlichen und politischen Führungsmächten USA und EU samt ihrem militärischen Bündnis NATO hat niemand die Macht, weltweit mit hegemonialem Anspruch zu agieren. Sie allein sind in der Lage, die eigenen Interessen überall durchzusetzen, je nach Lage und Opportunität auch mit militärischer Gewalt.

Hatte jemand nach der Implosion der realsozialistischen Staaten und des Warschauer Paktes noch die Illusion, eine friedliche Welt mit weniger Waffen könnte nun endlich verwirklicht werden, musste er sehr schnell das Gegenteil erkennen. Beim NATO-Gipfel 1999 wurde – mit Zustimmung der damals regierenden rot-grünen Koalition – eine neue Doktrin verabschiedet: Das „Nordatlantische Verteidigungsbündnis“ wurde in eine global agierende Militärmacht umgebaut, die sich selbst ermächtigte, überall auf der Welt einzugreifen, wo die „gemeinsamen Interessen“ berührt sind - auch präventiv und ohne UN-Mandat. Zehn Jahre später wurde die Doktrin um „humanitäre Interventionen“ und um atomare Präventivschläge erweitert. Und: Seit 1999 kann auch zur Sicherung lebenswichtiger Ressourcen überall auf der Welt militärisch eingegriffen werden. Wie wir wissen, macht die NATO von der Doktrin Gebrauch. Die Kosten sind hoch, sozial und finanziell.

Unter Berücksichtigung dieser wirtschaftlich-militärischen Selbstermächtigung mag es naiv klingen, an das sozial-psychologische Prinzip der Reziprozität zu erinnern. Danach kann ein soziales System – seien es zwei Menschen oder ganze Staaten – auf Dauer nur dann bestehen, wenn faire Regeln so wirken, dass kein Partner sich über den andern erheben kann. Asymmetrische Systeme können nur mit Gewalt aufrechterhalten werden, denn ständige Überheblichkeit, Dominanz und Ausbeutung erzeugen Wut, Empörung und Hass. Die Antwort auf den verwunderten Ausruf „Warum hassen sie uns?“ (G.W. Bush) lässt sich hier finden. Die Folgen mangelnder Reziprozität lassen sich in einer Schulklasse genauso beobachten wie in und zwischen ganzen Staaten.

Für die Durchsetzung des hegemonialen Anspruchs fallen aber auch andere Kosten an. Seit 1998 sind die Militärausgaben weltweit um mehr als 50% gestiegen; über zwei Drittel der Gesamtkosten schlagen für die Rüstung der NATO zu Buche. In den reichen Industrieländern leben 16% der Erdbevölkerung – aber sie leisten sich drei Viertel der Welt-Militärausgaben. Unter diesen Umständen von einer Bedrohung seitens der ärmeren oder gar verelendeten Staaten und Völkern auszugehen widerspricht jeder realitätsbezogenen Sicht. Nur die reichen Industrieländer, voran die USA (zunehmend aber auch die EU) können mit ihrer militärischen Übermacht Todeslisten erstellen und mit Drohnen „abarbeiten“, in allen Erdteilen eingreifen, je nach wirtschaftlichen und strategischen Interessen und politischer Opportunität.

Wenn es um die Durchsetzung der „nationalen Interessen“ geht, möchte Deutschland nicht zurückstehen: „Auslandseinsätze der Bundeswehr werden zunehmen. Die Verteidigung unserer Interessen und unserer Sicherheit muss im 21. Jahrhundert weltweit erfolgen“, sagte Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz bereits 2004.

Die Todeslisten-Nachricht ist aber aus einem zweiten Grund sofort als Fake zu erkennen. Die Definiton von Terror und Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Sicherheit ist eine Frage der Macht. Sogar Verfassungsnormen lassen sich durch eine schlaue Umdeutung in ihr Gegenteil verkehren. Erlaubt das Grundgesetz nur „Streitkräfte zur Verteidigung“? Dann wird eben Deutschland am Hindukush verteidigt. Militärische Hegemonie lässt nicht nur andere Länder angreifen und besetzen; sie erlaubt auch, die Köpfe zu erobern.

Gerade in Fragen von nationaler Bedeutung hat die politische Führung (und die ihr verbundenen Medien) große Mühe darauf verwendet, mögliche Widerstände in der Bevölkerung gegen die Wirtschafts- und Militärpolitik durch immer wiederkehrende suggestive Formeln abzubiegen. Viele aufmerksame Beobachter der Politik in Deutschland stellen sich die Frage: Wie gelingt es der wirtschaftlich-politischen Elite immer wieder, eine Politik zu verfolgen, die den Interessen der Bevölkerungsmehrheit zuwiderläuft? Bei allen Umfragen lehnt eine breite Zwei-Drittel-Mehrheit die Ausweitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Umso wichtiger ist den Befürwortern der Auslandseinsätze und der dahinter stehenden Interessen nicht nur die militärische Kapazität eines einsatzbereiten Berufsheeres mit modernsten Waffensystemen, sondern auch die Definitionsmacht.

Die Fähigkeit, sich in andere Menschen gedanklich und gefühlsmäßig hineinzuversetzen, erwerben bereits Kleinkinder. Genau diese Fähigkeit soll den erwachsenen Menschen durch eine `Gehirnwäsche´ ausgetrieben werden. Sie könnten sonst auf den Gedanken kommen, die Perspektive anderer Menschen zu übernehmen und Fragen zu stellen: Haben wir das Recht zu militärischen Eingriffen weltweit? Haben wir mehr Rechte, ist unser Wohlstand mehr wert als das Überlebensinteresse einer Familie in Niger? Wie sehen, wie erleben uns Menschen in Afghanistan oder Palästina, in nigerianischen Dörfern oder indischen Slums? Wie würden wir denken, was würden wir tun, wenn wir in einem besetzten Land lebten? Wie wirkt die kapitalistische Dominanz und Ausbeutung angesichts verhungernder Kinder, wie die waffenstarrenden robotergleichen Soldaten in den Straßen von Kabul, wie unsere vorherrschende Kultur, unser Lebensstil? Manch eine und einer könnte dabei Verständnis entwickeln für Menschen dort, die Widerstand leisten gegen diese Arroganz und Gewalt der „Führungsmächte“; vielleicht würden sie selbst Hass empfinden gegenüber den als verlogen empfundenen Parolen von Demokratie und Menschenrechten, die so offensichtlich von einer menschenverachtenden Ideologie der Verwertbarkeit von allem und jedem konterkariert werden. Sie könnten gar Zweifel bekommen über die Urheber des weltweiten Terrors.

Bundesminister de Maizière ist ungemein effektiv bei der Prägung neuer Definitionen und Uminterpretationen. Für ihn ist der weltweite Einsatz der Bundeswehr „Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität“. Und immer wieder zitiert er ein Grundrecht, das sonst von der Politik nie angewandt wird: „Eigentum verpflichtet.“ Aber de Maizière gibt dem Artikel 14 des Grundgesetzes eine vollkommen neue Bedeutung. Während im Grundgesetz präzisiert wird „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“, pervertiert der Verteidigungsminister den Sinn: Eigentum und Wohlstand verpflichten zu militärischen Einsätzen weltweit, denn: „Unser Reichtum entsteht durch Verflechtung in der Welt, durch Handel, durch Export und Import. Wir können nicht sagen, um die globale Sicherheit, von der wir sehr profitieren, sollen sich andere kümmern. Das politische Gewicht eines Staates wird sich künftig auch daran bemessen, ob er bereit ist, mit Streitkräften Verantwortung für die Sicherheit auf der Erde zu übernehmen“ (Interview BMVg, 01.06.2011).

Nachdem die rot-grüne Bundesregierung der neuen NATO-Doktrin zugestimmt und den Boden für die Militarisierung der Außenpolitik für deutsche Interessen gelegt hatte, war ihre Zustimmung zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 nur eine logische Konsequenz: „Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten“. In den Richtlinien wird explizit formuliert, was den Ex-Bundespräsident Köhler das Amt gekostet hat: „Freie Handelswege und eine gesicherte Rohstoffversorgung (…) Die Erschließung, Sicherung von und der Zugang zu Bodenschätzen, Vertriebswegen und Märkten werden weltweit neu geordnet.“ Das sind die Interessen, für die Deutschland Verantwortung übernimmt. Sicherheit, Schutz unserer Soldaten, Verantwortung – das sind dagegen die Begriffe, die wir bei der aktuellen Auseinandersetzung um die Anschaffung bewaffneter Kampfdrohnen noch häufig hören werden.

Von Georg Rammer

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grammer

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