Kapitalflucht und Sanktionen aus dem Glashaus

Russland Investoren ziehen ihr Geld aus Russland ab, wird gemeldet. Was die einen als Strafe für die Politik von Wladimir Putin sehen, beschreiben andere als Chance

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eine Frau läuft in Moskau an einer Wechselstube vorbei. Der Rubel ist Anfang März zwischenzeitlich auf ein historisches Tief abgesackt
Eine Frau läuft in Moskau an einer Wechselstube vorbei. Der Rubel ist Anfang März zwischenzeitlich auf ein historisches Tief abgesackt

Foto: KIRILL KUDRYAVTSEV/ AFP/ Getty Images

„Das Kapital flüchtet, der Rubel bricht ein und es droht eine Rezession: Russlands Wirtschaft driftet allmählich Richtung Abgrund.“ Das berichtete Benjamin Bidder auf Spiegel online am 28. März 2014 aus Moskau. Es klang fast frohlockend, was der Reporter da u.a. als Vorzeichen der westlichen Sanktionen beschrieb. „Einerseits hat sich das Tempo der Kapitalflucht deutlich erhöht, seit Putins Soldaten die Macht auf der Krim Anfang März übernommen haben. Andererseits lag die Kapitalflucht auch schon im Januar und Februar mit 32 Milliarden Dollar deutlich über den Werten des Vorjahreszeitraums.“ Bidder glaubte auch zu wissen, warum es der russischen Wirtschaft schon vorher nicht so gut ging: Sie wurde bisher nicht nach westlichem Muster „modernisiert“. "Von Modernisierung spricht in Russland niemand mehr", wird Wladislaw Inosemzew zitiert, erwartungsgemäß nicht einfach Ökonom, sondern „einer der schärfsten Kritiker von Putins Wirtschaftspolitik“. Der muß es ja wissen: „Und das liegt nicht am Westen oder Sanktionen, sondern daran, dass sich der Kreml gegen den Modernisierungskurs entschieden hat.“

Ob das so ist, kann durchaus bezweifelt werden. Und das nicht nur, weil Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 7. März 2012 über den russischen Präsidenten sagte: "Ich denke, er weiß sehr genau, dass das, was an Modernisierung Russlands notwendig ist, dass das seine Amtszeit beherrschen muss." Modernisierung bedeute, "die russische Wirtschaft muss unabhängiger von Öl und Gas werden, und da kann Deutschland eine Menge helfen und ich hoffe, dass diese etwas oberflächlichen Debatten auch aufhören."

Welches Kapital da aus Russland flüchtet, das hat Spiegel-Reporter Bidder und andere, die ähnliches schreiben, weniger interessiert. Ganz oben bei den Online-Suchergebnissen stehe: “Investoren ziehen massiv Kapital aus Russland ab”, so Thorsten Hild, Ökonom und Herausgeber von Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung. In einem Beitrag für die Nachdenkseiten vom 28. März 2014 fragte er, „um was für Kapital es sich denn da handelt? Und inwiefern jener Abzug von Kapital geeignet ist, Russland zu schaden?“ Hild wies u.a. daraufhin, dass die russische Börse mit laut Weltbank (2012) 875 Mrd. US-Dollar etwa rund 43 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts ausmachte. „Zum Vergleich: In den USA entsprach der Wert der Börse 2012 nach derselben Quelle 115 Prozent, in Deutschland 43,3 Prozent, in England 122,2 Prozent.“ Ein Blick in die Zahlen des russischen Amts für Statistik zeige, „dass der Anteil an von in Russland investiertem Auslandskapital insgesamt (also nicht nur Deutschland) mit etwa 18 Prozent am russischen Bruttoinlandsprodukt durchaus bemerkenswert ist“. Doch: „Dieser Eindruck relativiert sich jedoch stark, sobald man berücksichtigt, in welche verarbeitenden Produktionsbereiche das Ausland in Russland investiert hat. Acht Prozent sind in die Lebensmittelindustrie geflossen. Rund vier Prozent in die Papier- und Holzindustrie. Rund zehn Prozent in die Erdölindustrie. Rund zehn Prozent in die Grundverarbeitung von Metall. In die eigentlich interessanten Produktionsbereiche, die für das technologische Aufschließen Russlands wohl von Bedeutung wären, wurde hingegen kaum investiert: Maschinen und Ausrüstung 1 Prozent, Elektroindustrie 0,7 Prozent, Transportausrüstung 1,9 Prozent (davon Schiffe, Flugzeuge, Raumfahrt 0,2 %).“ Diese eher vernachlässigten Produktionsbereiche könnten aber die Wettbewerbsfähigkeit, den Verteilungsspielraum und den Wohlstand erhöhen.

Dagegen würden “manche deutsche Mittelständler” in Russland produzieren, zitierte Hild das Handelsblatt. Diese Unternehmen hätten vor allem Vertriebsstrukturen aufgebaut, weil Russland “vor allem als Absatzmarkt für deutsche Produkte interessant” sei, zitierte Hild das Handelsblatt. Gut 6.000 deutsche Firmen seien im flächenmäßig größten Land der Erde engagiert, darunter viele Mittelständler, meldeten die Deutschen Mittelstandsnachrichten am 21. Februar 2014. Im Gegensatz zu den technologieintensiven Branchen seien in den russischen Groß- und Einzelhandel 18,4 Prozent der gesamten Investitionssumme investiert worden, in Immobilien, Vermietung und ähnliches noch einmal über 11 Prozent (davon 0,1 % in Forschung und Entwicklung), stellte Hild in seinem Beitrag fest. Er beschrieb als eine der Ursachen eine „russische Wirtschaftspolitik, die möglicherweise jene skizzierten Potenziale nicht im Blick hat oder keinen Wert darauf legt“. Dazu gehörten aber auch „ausländische Unternehmen, denen es mehrheitlich in erster Linie darum geht, das schnelle Geld zu machen und von der bisher relativ einseitigen Produktionsstruktur Russlands zu profitieren“.

Fliehe das schnelllebige Kapital aus Russland, könne es zwar kurzfristig erhebliche negative Auswirkungen geben, so Hild. Mittel- und langfristig seien aber positive Impulse möglich, „wenn die Verantwortlichen in Russland die Zeichen der Zeit erkennen und sie als Chance nutzen, die Modernisierung ihrer Volkswirtschaft voranzutreiben“. Der schreibende Ökonom stellte klar: „Am vorteilhaftesten wäre es natürlich, wenn ‚der Osten‘ wie ‚der Westen‘ das damit verbundene wirtschaftliche, soziale und politische Potenzial erkennen und zu einer dieses fördernden Politik zurückkehren würden.“

Dem ist an sich zuzustimmen, das wäre das Beste. Aber den Optimismus von Hild, was das soziale Potenzial angeht, kann ich nicht teilen. Das sagt mir zumindest der Blick auf alle „Reformen“ in den führenden westlichen Industriestaaten seit 1989, die so oft als Vorbild für die „Modernisierung“ anderer Volkswirtschaften gelten. Aber vielleicht ist ja auch in diesem Fall in Russland eine andere Entwicklung möglich.

Die Vorfreude auf russischen Schaden in Folge von Sanktionen, wie sie u.a. bei Spiegel online zu lesen war und ist, könnte möglicherweise nicht nur zu früh kommen, sondern gar unrealistisch sein. Der Wunsch sei der Vater dieser Gedanken, schrieb Heiner Flassbeck am 20. März 2014 in seinem Blog flassbeck-economics. Die Begründungen, wie sie z.B. Nikolaus Blome am 14. März 2014 ablieferte, seien "mit naiv kaum noch zu beschreiben". Russland leide weniger an für die Modernisierung der Wirtschaft fehlenden ausländischen Investitionen, so Flassbeck. Dagegen sei es eher von der "holländischen Krankheit" betroffen, "also einer übergroßen Abhängigkeit von Industriegütereinfuhren (meist begünstigt durch eine übermäßige Aufwertung der Währung), die vor allem durch Rohstoffexporte bezahlt werden". Dafür spreche einiges, stellte der Ökonom fest und fügte hinzu: "dann sind die vom Westen angedachten Sanktionen hervorragend dazu geeignet, diese Krankheit zu heilen." So trage der abgewertete Rubel dazu bei, die Abhängigkeit von Importen zu vermindern. "Das ist in der Tat das Beste, was dem Land passieren kann, weil es in den vergangenen Jahren viel zu viele Güter zu Lasten der eigenen Industrie eingeführt hat, die es auch im Lande hätte produzieren können." Westliche Ausfuhrstopps aufgrund der Sanktionen würden die Umstellung der inländischen Produktion fördern.

Flassbeck warnt dagegen den Westen: "Wer von Rohstoffen abhängig ist und keine großen eigenen Reserven besitzt, kann sehr schnell in eine Situation geraten, in der selbst eine kleine physische Verknappung den Preis dieser Rohstoffe erheblich in die Höhe treibt ..." Das gelte besonders, da die physischen Rohstoffmärkte von den Finanzmärkten, eben den Börsen, dominiert werden. Des Ökonomen Rat: "Also Vorsicht, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!"

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Hans Springstein

Argumente und Fakten als Beitrag zur Aufklärung (Bild: Eine weißeTaube in Nantes)

Hans Springstein

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden