Nieder mit der Selbstkritik. Es lebe die Doppelmoral!

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Zur Zeit lässt sich im sogenannten "Westen" ein ganz großes Schauspiel beobachten. Mehr noch als je zuvor. Das Stück ist nicht ganz neu, aber es wurde vermutlich noch nie so häufig aufgeführt und neu interpretiert, wie in diesen Tagen!

Der Plot der Geschichte ist immer gleich. Nur die Anlässe, Orte und Personen werden der aktuellen Situation angepasst, um den größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. Meistens geht es um Einzelschicksale in autoritären Ländern, dessen Schicksal unser aller Mitleid gewinnen soll, damit wir für einen Moment vergessen, wie schlecht wir gerade trotz demokratischer Strukturen regiert werden. Manchmal sollen diese Schicksale aber auch nur ablenken, damit - von der breiten Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt - Waffen in wiederrum andere autoritäre Staaten verkauft werden können. Unseren Politikern reicht scheinbar die "wirtschaftliche Zusammenarbeit" als Beweis für die Rechtstaatlichkeit dieser autoritären Freunde.

Manchmal werden parallel auch einfach nur unbequeme Gesetze heimlich durchgewunken, während wir uns über etwas auf der anderen Seite der Welt empören.

Das ist das tolle an der Demokratie. Alle dürfen alles kritisieren. Doch wenn man dann die Stimmen aus der Bevölkerung zu einem Chor zusammenstellt, hört man nur das Klagen über ferne Länder, während die selbstkritischen "Nestbeschmutzer" in der letzten Reihe alles geben und doch kaum noch zu hören sind.

Es gab dieses Jahr sehr viele solcher Kampagnen. Man weiß schon gar nicht mehr, mit welcher unsäglich, albernen Kampagne es begann. War es der "Kalte Krieg" mit Joachim Gauck und dem Mutter-Kind-Duett "Timoschenko"? War es der ESC in Baku? Oder Syrien?

Der Timoschenko-Fall war seinerzeits an Absurdität kaum noch zu übertreffen. Die Kampagne hätte vermutlich besser funktioniert, wenn nicht sogar Oppositionelle in der Ukraine die kriminelle Oligarchin als Teil des korrupten, politischen Systems in der Ukraine entlarvt hätten. Am Ende bat selbst Timoschenko die westlichen Politiker, die Spiele nicht zu boykottieren. Was mich von einer wirtschaftsnahen Politikerin gar nicht überrascht. Keiner der Sponsoren dürfte glücklich darüber sein, wenn die Spiele in der Ukraine aufgrund fehlender Touristen ein Reinfall werden.

Die Bilder der "misshandelten" Oligarchin bleiben jedoch im kollektiven Bewusstsein hängen. Die Mehrheit recherchiert nicht einmal die Rolle dieses sogenannten Opfers. Warum denn auch? Warum sollten unsere Medien uns in die Irre führen? Sie hat doch einen blauen Fleck am Bauch! Da muss was schlimmes passiert sein!

Wenn aber in Deutschland der Staat Unrecht begangen hat, dann wird das verglichen zum Hype des anderen Unrechts, ziemlich schnell unter den Tisch gekehrt und mit dem "Schwamm drüber" gefahren. Wie seinerszeits in Stuttgart:

http://www.bz-berlin.de/multimedia/archive/00265/stuttgart-blind_2654716.jpg

Dann kam der Eurovision Song Contest in Baku. Man überlegte sogar die Regeln zu ändern und ungewünschten Gewinnern die Austragungsrechte abzuerkennen. Konsequenter wäre gewesen, wenn die Verantwortlichen von der EBU auf westliche Propaganda verzichtet und diese Länder gar nicht erst mit ins Bott geholt hätten. Die Regeln hätten der EBU ja bekannt sein dürfen. Wenn man jetzt opportun beschließen würde, dass bestimmte Länder den ESC nicht austragen dürfen, selbst wenn sie gewinnen, dann wäre die Luft aus dem ESC heraus. So macht doch genau diese Regelung den ESC erst spannend. Diese Regelung verhindert im übrigen auch, dass die Veranstaltungsorte ähnlich korrupt wie beim Sport ausgehandelt werden. Hätten Serbien und die Ukraine den Contest schon einmal ausgetragen, wenn die Austragungsorte wie bei der FIFA verschachert würden? Aber auch ehemalige ESC-Länder wie Luxemburg. Der Eurovision Song Contest war schon in Luxemburg. Eine EM oder gar WM wird vermutlich nie in Luxemburg halt machen, sofern Luxemburg sich nicht an einer gemeinsamen Bewerbung mit Belgien und den Niederlanden beteiligen. Für viele europäische Länder ist der ESC greifbarer, als die Bewerbung für eine sportliche Großveranstaltung, die nur alle vier Jahre stattfindet. (Das erklärt im übrigen auch, warum Großbritannien trotz der vielen erfolgreichen, britischen Musikern, immer nur schwache Beiträge hinschickt. Während sich die östlicheren oder kleineren Länder beinahe schon zu stark bemüht haben. Mit zum Teil verherrenden Tanz- und Gesangseinlagen.)

Und nun kommen wir zu Syrien. Hier wurde der Plot etwas verändert. Syrien kritisieren wir nicht, weil da gerade die Tischtennis-WM stattfindet. Nein, aktuell kritisieren wir Syrien, weil in London die Waffensysteme für Olympia auf den Dächern installiert werden müssen, ohne das man die aufgebrachten Bewohner dieser zivilen Häuser ständig in westlichen Medien sieht. Es soll auch kein Wort darüber verloren werden, dass durch das olympische Dorf vermutlich weit mehr Menschen ihre Wohnhäuser verloren haben, als es in Baku für das eine Stadion der Fall war. (Welches übrigens schon lange vor dem ESC geplant war!)

...

Dieser Text könnte in den nächsten Tagen noch erweitert, korrigiert & überarbeitet werden. Die aktuelle Version des Textes musste ich mir heute spontan von der Seele schreiben, weil mich diese Avaaz Petition ( en.avaaz.org/552/syria-bahrain-olympics-ban ) ziemlich wütend gemacht hat. Normalerweise wird der olympische Gedanke lediglich für Kritik am Gastgeberland missbraucht. Dieses Mal findet die Olympiade in London statt. In einer Stadt, die an der weltweiten Finanzkrise nicht ganz unbeteiligt sein dürfte. Eine Stadt in der schon lange vor der Olympiade Big Brother über die Straßen wacht. Eine Stadt in der jemand mit dunkler Haut erschossen wird, weil er mit einem Rucksack durch die U-Bahn-Station gerannt ist. Eine Stadt in der die soziale Ungleichheit schon im letzten Jahr zu Eskalation geführt hat. Während in der ganzen Welt friedlich gegen die Finanzmärkte demonstriert wurden, brannte in London die Stadt! "Free Scotland" Plakate im Stil der "Free Tibet"-Kampagne vermisse ich am Rande des Fackellaufs auch. Krieg und Folter im Irak. Es gäbe genug Punkte, die man in London mal ansprechen könnte. Aber das wäre ja langweilig, weil man dann diskutieren müsste. Fremde Länder kritisieren macht einfach mehr Spaß, weil man das auch mit CDU-Wählern machen kann, ohne das der Abend dadurch zu einem anstrengenden Streitgespräch wird. *seufz*

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Geschrieben von

Harm

queer dissenting artist - twittert unter @HarmNeitzel

Harm

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