Im digitalen Biedermeier

NSA-Affäre In Zeiten digitaler Saturiertheit können wir nicht auf den Schutz unserer Volksvertreter hoffen. Wir müssen unsere Grundrechte gegen sie verteidigen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Man kann die Frage danach, ob unsere Grundrechte durch die Tätigkeiten des amerikanischen Geheimdienstes NSA gefährdet sind, auf verschiedensten Wegen beantworten: Juristisch, philosophisch, historisch. Die Schlussfolgerung ist aber die gleiche: Die Grundrechte sind nicht in Gefahr. Sie werden institutionell ausgehebelt.

Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass die Grundrechte in erster Linie den Bürgern zur Abwehr des Staates dienen. Das sind die historischen Lehren, die wir aus vergangenen Epochen der Repression gelernt haben, und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das heute immer noch nötig ist. Im Westen, der ja so zivilisiert ist und wo „Bürger“ und „Staat“ ein und dasselbe sind. Wir arbeiten doch nicht gegen-, sondern miteinander. Es ist nur zu unserem Schutz. Repressive Staaten, das sind doch Russland, China, Nordkorea... Nicht „der Westen“.

Das war schon immer völliger Unsinn. Wir werden uns wohl oder übel an den Gedanken gewöhnen müssen, dass das Teilen der Welt in Gut und Böse nicht das gleiche ist wie „Westen“ und „die Anderen“, sondern dass auch westliche Regierungen ein Interesse daran zu haben scheinen, ihre Bürger ungefragt vor sich selbst zu schützen, indem sie uns alle unter Generalverdacht stellen und flächendeckend unsere Daten abschöpfen. Und nebenher Politik- und Wirtschaftsspionage betreiben.

Es gibt jetzt nur noch wenige Journalisten, die das Ausmaß dieses Skandals infrage stellen. Das ist gut so. Am Anfang des Bekanntwerdens der Affäre war das anders. Doch das Begründen, Rechtfertigen und Vermitteln von bürgerrechtsverletzenden Handlungen seitens der Politik ist nicht der Beruf von Journalisten: Dafür gibt es Pressesprecher.
Umso mehr Bürger und Politiker gibt es aber, die genau das tun. Kann man hier eine Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung sehen? Eine der häufigsten Formulierungen, die als Gegenargument vorkam und noch immer vorkommt, lautet „Ich habe nichts zu verbergen“.
Die meisten Journalisten haben mittlerweile die Verfehlungen unserer Politik und ihrer Politiker erkannt, und in seltener Einigkeit wurden und werden wir und unsere Grundrechte von ihnen verteidigt. Die Vorgänge werden hinterfragt. Endlich wieder.

Doch dann drehen sie sich um und stellen fest, dass eine große Masse der Bevölkerung sie fragend anschaut. Warum macht ihr das? Ihr benutzt doch auch Google. Ein Smartphone. Facebook. Dann müsst ihr euch nicht wundern.

Digitale und (un)demokratische Saturiertheit

Man ist versucht, wütend zu werden.

Über die Bundeskanzlerin, die sich keinen größeren Tadel einfallen lassen hat als „Verwunderung und Befremden“, bis dann ihre ganz persönliche Überwachung bekannt wurde.
Über die Vier-Parteien-Landschaft, die nun endgültig keine Partei mehr beinhaltet, die das Bewahren von Bürgerrechten auf ihre Fahnen schreibt. Bei der FDP gab es im Großen und Ganzen zum Schluss noch zwei wichtige Stimmen für die Bürgerrechte: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gerhart Baum. Die Piraten sind ebenfalls weg. Zeitgleich wird die Vorratsdatenspeicherung geplant.
Und nicht zuletzt über die Bürger, die sich als Gegenleistung für personalisierte Suchergebnisse und Werbung und finanziell kostenlosen Social-Network-Dienste das letzte bisschen Freiheit abkaufen lassen und den Skandal anschließend als „alternativlos“ herunterspielen.

Jean Paul hat die Zeit des Biedermeier „das Vollglück in der Beschränkung“ genannt. Wir leben offenbar in einer Art digitalem Biedermeier-Revival, in der wir für ein bisschen Bequemlichkeit, Ordnung und Harmonie auf unsere Rechte verzichten. Bloß nicht fordern, bloß nicht diskutieren. Wofür Recht auf Privatsphäre, wenn wir Amazon, Google und Co. für den Luxus der kostenlosen Cloud ohnehin unsere Daten zur Verfügung stellen? Wozu Recht auf private Kommunikation, wenn wir alle auf Facebook posten und uns an lustigen Katzenvideos erfreuen? Ist das nicht ein Gewinn? Wollen wir nicht ohnehin mehr Transparenz? Sparen wir nicht alle Zeit und Geld? Ist es das nicht wert?

Dass diese Fragen ernsthaft gestellt werden und offenbar auch beantwortet werden müssen, ist der beste Beweis für die Saturiertheit des digitalen Zeitalters. Wir haben gesehen, wohin die Saturiertheit im 19. Jahrhundert führte.

"Wir weisen (...) auf etwas hin, was im Grunde eine Selbstverständlichkeit ist: Dass historisch hart erkämpfte Menschenrechte - wie das Recht auf Privatsphäre, das Briefgeheimnis, die Unschuldsvermutung und die freie Meinungsäußerung - natürlich ebenso in der virtuellen Welt zu gelten haben, ebenso wie in der realen.
(...) Das Wichtigste scheint mir persönlich erst einmal, dass überhaupt ein Gefühl für das Unrecht entsteht, das uns angetan wird. Wir müssen uns klarmachen, dass eine rundum ausgespähte und überwachte Gesellschaft keine demokratische und keine freie Gesellschaft sein kann"

sagte Eva Menasse, eine von 7 Initiatoren von "Geht auch anders", einem Zusammenschluss einer täglich wachsenden Gruppe von Kreativen, die sich gemeinsam dafür einsetzen, unsere Grundrechte auch im digitalen Zeitalter zu verteidigen. Sie haben die Gefahr erkannt, und sie wollen sich nicht mit der aussichtslos erscheinenden Lage abfinden. Das sollten wir anerkennen und unterstützen.

Der Staat schützt uns nicht. Merkel hat kein Interesse, sich klar vor ihre Bürger und gegen amerikanische und britische Übergriffe auf unsere Privatsphäre zu stellen. Wir müssen unsere Rechte wieder in die eigene Hand nehmen. Und wir müssen es unseren Volksvertretern übelnehmen, dass sie uns dazu zwingen, die Lösung des demokratiegefährdenden Problems der Überwachung zu privatisieren. Es wäre ihr Job. Aber sie ziehen die Sicherheit und Bequemlichkeit und Umfrageergebnisse der Freiheit vor. Wir sollten es ihnen nicht gleichtun. Denn wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Helke Ellersiek

Freie Journalistin. Leipzig, Köln, Berlin.Twitter: @helkonie

Helke Ellersiek

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden