Gebt uns Alterung!

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„Alben"-Cover haben längst ihre Entsprechung auf Bildschirmen gefunden, mit dem neuesten Format „iTunesLP“ noch einmal etwas interattraktiver. Das geht schon in Ordnung – wenn sich die visuellen Begleitpakete nur endlich richtig nutzen, ja, „abnutzen" liessen!

Nein, nein, das Problem ist nicht, dass Popmusik nicht mehr „richtig“ verpackt wird. Sie kommt als Datenstrom durch‘s Kabel oder is‘ „in the air“, liegt auf Festplatten oder in Chips, ist doch OK. Damit verschwinden zwar die ans Einrichtungsherz gewachsenen, gleichwohl klobigen Plattenregale und „CD-Racks“, aber, ach, was soll‘s: das schafft Raum in der Wohnung. (Und wer jemals mit einer stattlichen Anzahl sauschwerer Kisten voller Vinyl und „Jewel Cases“ umgezogen ist, der weiss die Kompaktheit einer all diese Musik fassenden 500 Gigabyte-Festplatte sehr zu schätzen.) Die Datenträger braucht‘s nicht. Aber auch dessen Verpackung, im Sinne des Materials, ist old school – dass mit der „Haptik“ ist bei Papphüllen jedenfalls mehr Mythos, vollkommen überbewertet.

Sensorisch betrachtet sind Papphüllen nur einfacher Karton, die lösen bei den Rezeptoren in unseren Fingerspitzen die immergleichen, und daher schnell langweiligen Signale aus – und könnten auch von einer Fischstäbchen- oder Füllerpatronen-Verpackung stammen. Gut, es gab Prägedruck-Exemplare, wie etwa Stevie Wonders „Secret Life of Plants“-Album, auf dem sich auch Blindenschrift-Huppel erheben, aber diese und wenige andere Ausnahmen bestätigen nur die Regel: Für den Tastsinn ist ein LP-Cover nichts Besonderes. Und der Geruch? Naja, Recycling-Pappe und Druckerfarben, Schutzhüllen-Plastik und Vinyl rangieren olfaktorisch nicht im Auffälligkeitsbereich. (Und ehrlich gesagt war mir die eine Ausnahme, das mit diesem widerlichen Patschuli-Parfüm getränkte Cover von Madonnas „Like A Prayer“, echt Geruch genuch – die stinkt ja heute noch!) Nein, der „Haptik“ wegen sind Alben-Cover auch nicht zu vermissen.

Das meint aber keinesfalls, dass es nicht eine visuelle Entsprechung oder Ergänzung für die Musik geben sollte, insbesondere für ein als Album formatiertes Musik-Werk. Was uns diesbezüglich Plattenfirmen, Bands oder Musikplattformen als visuelle Beipack-Datei von Downloads anbieten, das ist nichts als pure Schlamperei: Man bekommt das Front-Cover als Bild – das war‘s. Hallo?!

... mit diesem potthässlichen MySpace-Gewürge am unteren Ende der Lieblosigkeits-Skala

Wie wär‘s mit Texten, Fotos, Artwork, Liner Notes, Credits, Zusatzinformationen? Niente. In vielen Fällen sind nicht mal die Komponisten verzeichnet – es ist einfach nur erbärmlich. Na, toll, es gibt Websites der Bands, von Plattenfirmen oder irgendwelchen zwischengeschalteten Promo-Agenturen. Aber im Sinne der Begleitung des Albums taugen sie meist nichts. Fast immer technisch-funktional abgekoppelt vom eigentlichen Werk, quick and dirty, schnell und vergänglich – und mit diesem potthässlichen MySpace-Gewürge am unteren Ende der Lieblosigkeits-Skala. großer Mist.

Seit es Downloads gibt, ist kein echtes Äquivalent des Album-Covers für digitale, interaktive, audiovisuelle Bildschirmmedien geschaffen beziehungsweise als Standard etabliert worden. Wenn also Apple jetzt, über sechs Jahre nach dem Start des iTunes Music Store, sein „iTunesLP“-Format einführt, ist das vor allem eins: längst überfällig. Immerhin ist Apple seit Jahren weltweit Marktführer für den trägerlosen Musikverkauf via Downloads. Da sollten die Chancen, wenigstens jetzt einen Standard zu setzen, nicht so schlecht stehen. Das lohnt einen genaueren Blick, hier am Beispiel von Norah Jones Album „Come Away With Me“.

Ein iTunes-LP-Album enthält neben den Songs eine Datei, die man in iTunes per Doppelklick öffnet und die in einem Extra-Fenster wie eine kompakte Website funktioniert: Ein Hauptmenü für Songs, Fotos, Videos, Songtexte und „Credits“ (Textinformationen), alles einer einheitlichen Gestaltung folgend, miteinander harmonierend. Die Links laufen geschmeidig, man kann während des Musikhörens klicken und gucken oder während des „Schmökerns“ die Musik starten. Soweit, so gut, das Ganze ist quantitativ OK und qualitativ ordentlich gemacht, wirklich schöne Gestaltung, der Romantik von Jones‘ Musik angepasst, auf dem Niveau erstklassiger Hochglanz-(Papp-)Cover. Der audiovisuelle Genuss sollte auch jenseits des Schreibtisches funktionieren, etwa im Sofa/Sessel in Fernseher-Entfernung oder auf dem Schoss.

Gleichwohl sind die Fotos und Videos allenfalls 17-Zoll-Monitore füllend, also auf Mittelmass konfektioniert. Damit bleibt das Potenzial von brillanter HD-Auflösung ungenutzt, mit der man ja an die Größe von klassischen (Klapp-) Covern herankäme, mit ihren 32x32 Zentimeter großen Grundflächen. Auf der anderen Seite fehlt bislang auch eine entsprechende Skalierung von Bildern, Lyrics, Videos und erwähnten Textinformationen für mobile Geräte, wie Apples iPod- und iPhone-Familie, dafür muss ja alles entsprechend umformatiert und umsortiert sein.

Wie wär's mit einer „Aging“-Funktion?

Als Defizit im originären „Hometurf“ digitaler Datenverarbeitung muss jedoch gelten, dass die reichhaltigen Zusatzinformationen in Liner Notes und Credits nur tot Texte sind: Namen von Musikern oder auch Produzenten und Studio-Technikern – für die Musik genau so wichtig wie Komponisten oder Interpreten – sind nicht verlinkt und entstammen auch nicht der iTunes-Datenbank. Wie schade, könnte ich sonst doch beispielsweise meine Mediathek oder den iTunes-Store nach Bassisten/Produzenten/Studios durchsuchen, eine „Diskographie“ aufrufen und so weiter … Wie lange müssen Musikliebhaber auf diese an sich triviale „Database-Publishing“-Leistung eigentlich noch warten?

Eines aber hat der althergebrachte Gebrauchsgegenstand „Cover“ dem digitalen Multimedia-Beipack-Paket „iTunesLP“ immer noch voraus: die persönlichen Gebrauchsspuren. Erst sie können einem „pappigen“ Plattencover den individuellen Wert geben. Ein Kaffee- oder Getränkefleck etwa erinnert an diese eine Party, bei der das Album den Höhepunkt wilder Tanzerei markierte – und durch ihn gleichsam markiert wurde. Oder der auf ewig hörbare Kratzer beim dritten Song, die irgendwie mal abgeknickte Ecke, die sichtlich verblassten Farben – all diese Alterungs-Merkmale fehlen den digitalen Kulturgütern völlig. Wieso eigentlich?

Wie wär‘s mit einer „Aging“-Funktion, die Fotos, Grafiken, Videos langsam anfrisst, verblasst, verwittert, nd zwar mit jeder Benutzung ein ganz klein bisschen mehr. Gilb, Risse, Kratzer, Grauschleier – künstlich erzeugt, aber echt aussehend. Von mir aus gerne mit Rücksetz-Funktion, damit bei Vererbung oder Schenkung die Gebrauchsspuren wieder weg sind. Für die Musik selbst schlage ich eine „Static“-Option vor, die bei jedem Abspielen gleichsam zufällig wie gezielt etwas mehr statisches Knistern einfügt. Und das alles nur bei jenen, die das Werk wirklich ganz durchhören beziehungsweise komplett ansehen: dann sind die virtuellen Gebrauchsspuren Erinnerung an den wirklichen, echten Genuss. Fänd‘ ich echt gut.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hest

Journalist, Autor, Referent, Lehrkraft, Freischreiber. Wanderer & Wunderer in Sachen Medienkultur

hest

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