Nachwachsende, mitdenkende Artikel?

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Mit dem Konzept der „Living Stories“ projiziert Google eine Vision für Zeitungen ins Web, die endlich mal mit Journalismus und dessen Qualitätsmerkmalen zu tun hat. Interessanterweise holt das verantwortliche Google-Entwicklerteam hierfür die Verleger mit ins Boot – obwohl selbiges ja erst zu bauen ist.

So schnell kann‘s gehen. Vor rund 15 Jahren noch stand der Link geradezu wortwörtlich für die neue Qualität der neuen Medien: Einen inhaltlichen Verweis in einem Text nicht nur zu lesen sondern sich – per Klick auf den „Hyperlink“ – direkt zur Verweisquelle befördern zu lassen, das war damals definitiv der gefühlte Einbau des „Enterprise-Beamers“ in den Medien-Alltag. Doch heute, wo Webseiten gespickt sind mit Text-Links, Navigations- und Funktions-Links, erkennbaren und untergejubelten Werbe-Links, sorgen die Links zunehmend für Unruhe bei der Informationsaufnahme.

Schon beim bloßen „Berühren“ eines Links mit dem Bildschirmzeiger stellt sich mitunter unerwartet und ungewollt ein Aufspring-Fenster in den Blickweg. Zudem locken Direktlinks, „Permalinks“ und so genannte „Tags“ zum Klicken: Stichworte, Merkworte oder Sammelbegriffe, allesamt Links. Und schwupp, ist man in einem anderen Text, in einem anderen Kontext gar, auf einer anderen Website, in einer anderen Umgebung – und muss von dort zurück auf die Ursprungsseite. So „oszilliert“ man durch die Inhalte, wie es der Medienwissenschaftler Christian Eigner mit dem Begriff „Oszillationsmedien“ umschreibt. Wer sich von zu viel Links dann zu viel oder zu schnell hin- und her-oszillieren lässt, dem schwinden irgendwann die Aufnahme-Sinne; nicht wenige verlieren den Faden, taumeln zerstreut durch zahlreiche Browserfenster, die ja alle neue Inhalte, Navigationen und Links enthalten und weiter ablenken: ist ja alles interessant, aber was hatte ich eben gerade noch gelesen?

Dass an diesem Punkt immer mehr Nutzer aufgeben, alle Fenster schliessen oder zumindest aus der Anfangs-„Geschichte“ aussteigen, ist vielen Anbietern bewusst. Doch bisher verliessen sich Redakteure und „Content-Manager“ auf die Ingenieure von Internet-„Browsern“ und „Web Content Management Systemen“ sowie auf die Website-Gestalter. Ganz den Branchen-Idealen von „Ergonomie“, „Usability“, Benutzerführung und Ästhetik verpflichtet, versuchten sie durch Layout-Strukturen und Farben, Karteikarten-Metaphern („Tabs“), Kopf-, Fuss- und Seitenleisten Übersicht zu schaffen, das Rahmen- und Fenster-Chaos zu ordnen. Doch immer mehr Optionen verlangen nach immer mehr Konfiguration – auch die eine Vorstufe zur Konfusion. Und der „Oszillationsfaktor“ stieg dessen ungeachtet weiter an.

Das kürzlich von Google öffentlich vorgestellte – sprich ins Web geschleuste – Konzept der „Living Stories“ scheint von einer einzigen, aber guten Idee geleitet: Den Leser in der „Geschichte“ und auf der ursprünglichen Seite zu halten. Bisher sind in den Text oder um die Texte herum viele Links platziert, die zu anderen Quellen, Texten, Beiträgen, Informationen des gleichen Themas, aber eben auf andere Seiten führen. Bei den „lebenden Geschichten“ erscheinen diese weiterführenden Texte, Beiträge, Informationen direkt im eigentlichen, sagen wir mal, Textgebiet. Eingebettet, wenn man so will. In dem von Google erläuterten und visualisierten Beispiel geht es um Berichte über den Afghanistan-Krieg, sowohl von der New York Times als auch von der Washington Post, über mehrere Tage und hinein in die Archive beider Zeitungen. Das folgende, von Google produzierte Video verdeutlicht, wie das Ganze aus der Perspektive des interagierenden, aber eben nicht oszillierenden Lesers aussehen soll:


So viel wird klar: Der Leser braucht die eigentliche Seite nicht mehr zu verlassen, um sich in ein Thema zu vertiefen. Die Seite selbst aggregiert, was unterschiedliche News-Quellen im Verlauf der Zeit zu diesem Thema veröffentlichten. In dem Video sieht das alles schon recht schlüssig aus. Die Inhalte zu einem bestimmten Thema wachsen praktisch mit der Zeit, aber immer an den richtigen Stellen nach. Im Beispiel kommen die Inhalte von zwei grossen US-Tageszeitungen. Aber es ist ja leicht vorstellbar, dass weitere Zeitungen, Quellen, Archive, womöglich auch Blogger oder Leser an diesem Nachwachsen mitwirken können. (In diese Richtung gehen ja auch hier auf Freitag.de diskutierte Konzepte für eine journalistisch-redaktionelle Nachhaltigkeit von kollaborativ erstellten Inhalten. Aktualisierung: Mehr noch: In seinem ebenso profunden wie impulsgebenden Freitag.de-Beitrag „Wachsende Artikel“ hat Streifzug das Konstrukt wachsender Artikel sehr gut umrissen; Danke, Streifzug, für den Hinweis und natürlich den Beitrag, den ich mit diesem Text hier zu ergänzen versuchte.)

Gewiss liessen sich auf solch „aggregierenden“ Seiten – an gut ausgewählten Stellen und wohldosiert – auch multimediale Erweiterungen und Vertiefungen einflechten: Bewegtbilder, Audio oder etwa auch (animierte) Infografiken. Leitbild der Integration müsste dabei aber bleiben, Vertiefung zu ermöglichen und zugleich unnötige „Oszillation“ zu vermeiden. So ähnlich scheint das auch die Entwicklunsgabteilung des US-amerikanischen Sport-Magazins Sports Illustrated zu visionieren, wie das folgende Video zeigt:


Ein Konzept, dass übrigens viele mit dem kommenden „Tablet“-Computer von Apple in Verbindung bringen. Nicht nur, dass die Kalifornier mit diesem Gerät eine Art XXL-iPhone herausbringen wollen. Vielmehr ist Apple wohl seit geraumer Zeit mit grossen Verlagen im Gespräch, um Zeitungen, Zeitschriften und Magazine als Lieferanten von Bezahl-Inhalten in die bewährte iTunes-Logistik zu integrieren. Der iTunes-Store, weltweit erfolgreicher Musik-, Film- und TV-Serien-Shop, ist für seine elegante Integration in das digitale Arbeits- und Freizeit-Umfeld der Computernutzer bekannt und verfügt über ein einfach handhabbares, von Millionen Kunden gelerntes Abrechnungssystem. Genau deshalb könnte dieser iTunes-Store eine Schlüsselrolle beim Umschwung zu bezahltem Online-Publishing einnehmen, den ja insbesondere die Verlage dringlich herbeisehnen.

Da passt es gut, wenn ein weiterer Gigant der Internet-Wirtschaft, namens Google, an einem Konzept arbeitet, mit dem Zeitungs-, Zeitschriften und Magazin-Inhalte dort an Qualität gewinnen, wo ihre eigentlichen Stärken liegen (sollten): Im Journalismus. Denn die Kernidee von „Living Stories“, soweit die obigen Dokumentationen diese Schlüsse zulassen, begründet sich ja im originären journalistischen Handwerk, Informationen nach redaktionellen Kriterien zu sammeln, zu bündeln und aufzubereiten; Zusammenhänge vor allem erzählerisch-inhaltlich herzustellen. Neu scheint an „Living Stories“, dass sie die Tiefe des Internet-Raumes nutzen, doch dabei die Artikel quasi mitdenken lassen und den Leser damit auf der Seite halten – und so an's Format binden. (Wie optisch übersichtlich und im Sinne der Nutzerführung ruhig solche Seiten am Ende gestaltet sind, bleibt indes abzuwarten; zumal wenn Werbung hinzukäme.)

Dass Google hier zu einem vermeintlich frühen Stadium Einblick in seine Entwicklungsarbeit zu geben scheint, ist gewiss Markt-strategisch zu bewerten: Der Suchmaschinen-Marktführer will damit wohl auch gegen die Vorwürfe anarbeiten, eine ebenso verschlossene wie kooperationsfeindliche „Datenkrake“ zu sein. Plakative Transparenz – wie inszeniert sie auch sein mag – gilt in solchen Fällen als probates Kommunikations-Gegenmittel. Bemerkenswert ist aber, dass Google mit der New York Times und der Washington Post zwei der wichtigsten US-Zeitungen überhaupt in dieses Projekt integriert. Immerhin sahen Zeitungsverlage bislang in Google eine Art Blutegel, der sich primär durch Absaugen des von ihnen produzierten Lebenssafts „Information“ ernährt. Jetzt holt Google die Verleger direkt mit ins Boot – wobei selbiges ja erst noch zu bauen ist.

Obwohl: So viel zu „bauen“ ist hier vielleicht gar nicht, es könnte um was anderes gehen. Die für Google sehr typische, weil verbrauchernahe und zugleich Suchmaschinen-Kernkompetenzen nutzende Vision der „Living Stories“ erfordert meiner Meinung nach gar nicht so viel Fantasie – eigentlich fragt man sich, wieso es so etwas in dieser Form noch nicht gibt. Nein, die „Living Stories“ erfordern vermutlich – neben viel Web 2.0-Technologie, die Google aber hat und beherrscht – in erster Linie Verständigung. Und zwar eingehende Verständigung zwischen den beteiligten Medien, also Verlagen, Sendern, Publishern und den Distributoren, also auch Apple. Sie alle müssen sich verständigen hinsichtlich des gegenseitigen Frei- und Weitergebens ihrer „Waren“ und bezüglich des Austausches von Verschlagwortungen und Indizierungen von Inhalten, von Schnittstellen und Stellschrauben, kurzum: über Kompatibilitäten der Inhalts-Container.

OK, wahrscheinlich soll die Zusammenführung der „Living Stories“-Inhalte selbst – das wäre Google-typisch – weitgehend automatisiert erfolgen. Doch das birgte die Gefahr, dass Texte, Artikel, Beiträge, Geschichten, Kolumnen, Kommentare, Meinungen immer wieder mal in einem zusamenroboterten Gaga-Dada-News-Service-Werbe-Publishing-Kuddelmuddel enden, wie man das von x-beliebigen Internet-Portalen kennt. Damit sich journalistische Beiträge jedoch wirklich zu „lebendigen Geschichten“ ergänzen, zu mitdenkenden Artikeln und damit vielleicht zu einem Qualitäts-Journalismus in neuer Form (nach)wachsen, müssten vermutlich weitaus mehr Menschen mit eingeschalteten Köpfen im laufenden Aggregations-Prozess mitarbeiten, als man es von bisherigen, typischerweise sehr maschinisierten Google-Produkten kennt. In diesem Umstand könnte also das eigentlich Visionäre des für „Living Stories“ verantwortlichen Google-Entwicklerteams liegen. Mal sehen, wie weit es damit tatsächlich kommt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hest

Journalist, Autor, Referent, Lehrkraft, Freischreiber. Wanderer & Wunderer in Sachen Medienkultur

hest

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