Ken Loach: "Die herrschende Klasse lässt die Peitsche knallen"

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Seit über 40 Jahren gibt Ken Loach der britischen Arbeiterklasse mit seinen Filmen eine Stimme. Anlässlich einer Retrospektive seiner Arbeiten, die am ersten September am British Film Institute in London beginnt, sprach der linke Filmemacher mit der Guardian-Autorin Kira Cochrane, unter anderem über die jüngsten Unruhen in London

Im Rahmen der Retrospektive, die am ersten September am British Film Institute in London beginnt, wird erstmalig Ken Loachs Dokumentation Save the Children aus dem Jahr 1969 gezeigt werden. Da der vom Fernsehen in Auftrag gegebene und von der Hilfsorganisation Save the Children zu einem Drittel kofinanzierte Film nicht den Erwartungen seiner Auftraggeber entsprach, wurde er nie ausgestrahlt. Anstatt die Arbeit der Hilfsorganisation zu loben, lenkte Loach den Blick auf die potenziellen Probleme von Entwicklungshilfe. Dies war nicht die einzige Dokumentation Loachs, die der Zensur zum Opfer fiel. Auch die Reihe Questions of Leadership, die sich Anfang der Achtziger kritisch mit den Reaktionen der Gewerkschaftsbosse auf den Thatcherismus auseinandersetzte, wurde aus offensichtlich politischen Gründen nie gesendet. Auf die Frage, ob es ihm etwas ausmache, wenn seine Arbeiten zensiert oder zurückgezogen werden, sagt Loach:

Es ärgert mich, nicht um meiner selbst willen, sondern wegen der Leute, deren Stimmen unterdrückt werden. Wenn Gewerkschaftler, gewöhnliche Leute, die Basis, die sonst nie im Fernsehen zu Wort kommen, nie interviewt werden, nicht angehört werden dürfen, dann ist das ein Skandal. Und das passiert immer wieder. Wir haben von den Kids, die da in London randaliert haben, doch eigentlich nur sehr wenig gehört. Man sah ein paar Leute mit Kapuzenpullis, die sich nicht besonders gut ausdrücken konnten, aber tatsächlich durften sich nur sehr wenige von ihnen überhaupt äußern.“

In Bezug auf den strengen Umgang der Gerichte mit denjenigen, die im Zusammenhang mit den Ausschreitungen angeklagt wurden, bemerkt er in Anlehung auf die Rechtspraxis früherer Tage voller Lakonie: „Als nächstes werden sie wohl wieder Leute wegen Schaftdiebstahls erschießen, oder was meinen Sie? Aber irgendwie weiß man ja: Wenn irgend etwass Dramatisches passiert, zieht jeder sich auf den Bereich zurück, in dem er sich wohl fühlt. Die Tories ziehen sich darauf zurück, Sozialleistungen zu kürzen, die Leute aus ihren Wohnungen zu zerren und drakonische Gefängnisstrafen zu verhängen. Das ist ohnehin das, was sie wollen. Also nehmen sie, egal, was passiert, zum Vorwand, das zu machen, was sie ohnehin immer wollen.“

Als Cochraine die beiden jungen Männer anspricht, von denen jeder zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie versucht hatten, auf ihren Facebook-Seiten zu Unruhen aufzurufen, zuckt Loach mit den Schultern und bemerkt, dass deren Fälle wohl in Revision gehen werden. „Die herrschende Klasse lässt die Peitsche knallen, oder? Es ist abstoßend. Wir müssen uns organisieren. Mit den Worten des alten amerikanischen Gewerkschafters Joe Hill: `Klagt nicht, organisiert euch.´ Ich denke, die den Unruhen zugrunde liegenden Faktoren sind für jedermann klar ersichtlich, der Augen hat, um zu sehen … Mein Eindruck ist, dass jede wirtschaftliche Struktur zerstört wurde, die jungen Leuten eine Zukunft bieten könnte. Traditionell werden sie in die Arbeitswelt integriert. Dort haben sie mit Erwachsenen zu tun, die die Jungen losschicken, um einen Lufthaken oder Knallblättchen für den Drehmomentschlüssel zu besorgen, und sie derart zum Besten halten.Aber sie lernen dort auch, Verantwortung zu übernehmen, ein Handwerk auszuüben und über ihre Fähigkeiten definiert zu werden. Thatcher hat das zerstört. Arbeitsplätze in Bereichen wie zum Beispiel der Eisenbahn, im Bergbau und der Stahlindustrie wurden von ihr ganz bewusst abgebaut und der Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsenenleben dadurch prekarisiert. Dies geschah bewusst und wissentlich.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es vor 40 oder 50 Jahren einen solchen Nihilismus unter den Kids gegeben hat wie heute. Heute gibt es keinen Platz mehr für sie, Punkt. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir trotz der materiellen Fortschritte heute schlechter dran sind.“ Die politische Klasse – egal auf welcher Ebene – verstehe nicht, was es bedeutet, arbeitslos zu sein, so Loach weiter.

Auf die Frage, ob er in Anbetracht von Finanzkrise, Spesenskandal im britischen Unterhaus, dem Skandal um Murdochs News Of the World mitsamt der allzu großen Nähe der Londoner Polizei zu Murdochs Medien-Imperium und den Kürzungen im sozialen Bereich und öffentlichen Dienst eine Chance für eine revolutionäre Situation in Großbritannien sehe, verweist Loach auf die Notwendigkeit der Organisation. „Das alles ist wie Dampfdruck. Der Dampf wird nichts in Bewegung setzen, solange es keinen Motor gibt und niemanden, der ihn anheizt und die Räder rotieren lässt.“ In der jüngeren Geschichte sieht er den Moment, an dem eine Bewegung hätte entstehen können, in den Demonstrationen gegen den Irakkrieg 2003. Doch dieser Moment sei verpasst worden.

Das Interview mit dem Guardian finden Sie hier

www.guardian.co.uk/film/2011/aug/28/ken-loach-class-riots-interview

(Foto auf der Startseite: Abbas Momani/ AFP/ Getty Images)

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Geschrieben von

Holger Hutt

Redaktioneller Übersetzer

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