Tom Waits: "I look like hell but I'm going to see where it gets me"

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Tim Adams vom Observer traf Waits anlässlich der Veröffentlichung von Bad As Me zum Gespräch. Hier eine gekürzte Fassung des Originals in der Übersetzung


Früher dachte ich, dass alle guten Aufnahmen um drei Uhr morgens gemacht werden“, erzählt mir Tom Waits mit seiner verschwörerischen wasted and wounded -Stimme, die für diese Tageszeit immer noch wie geschaffen scheint.

„Als ich anfing, wollte ich daher ins Studio, wenn die Bars dicht machten. Ich dachte einfach, das sei die Zeit, zu der alles Entscheidende passiert. Und ich schätze, dass es für mich eine ganze Weile auch funktioniert hat. Aber heute glaube ich nicht mehr so recht daran. Heute weiß ich, dass es mehr als nur eine Art gibt, sich an eine Herde Vieh heranzuschleichen ….“

Waits sitzt im Hinterzimmer eines Wirtshauses in der Nähe seiner Heimatstadt Santa Rosa, wo die industrialisierte Agrarlandschaft im Norden San Franziskos in Weinanbaugebiet übergeht. Wie er ist das Washoe House eine altehrwürdige und etwas verwitterte Institution. Seit Ulysses S Grant hier zu Gast war und Berichten zufolge unbekleidet vom Balkon aus eine Rede hielt, hat fast jeder Gast einen Dollarschein an die Decke gepinnt und es war noch nie jemand verzweifelt genug, um wieder einen herunterzuholen. Die Music-Box spielt Country. Wie ein Hund, der vor einem Feuer liegt, hat der stets wachsame Waits stets ein Ohr auf sie gerichtet. Immer mal wieder unterbricht er sich und grunzt einen Fetzen der ein oder anderen Cowboy-Melodie mit.

Auf dem Tisch vor ihm liegen das Buch, das er gerade liest: Crow Planet („Es handelt davon, dass Krähen viel schlauer sind als man denken würde.“) und ein Notizbuch, in dem er seine Songideen festhält. Daneben steht eine Tasse schwarzer Kaffee. Wir reden über sein neues Album, Bad As Me, und seine neue Angewohnheit, im Alter von 61 Jahren auf einmal früh morgens ins Studio zu gehen.

Heute will ich anfangen, bevor irgendjemand einen musikalischen Gedanken hatte. Wenn man eine Platte aufnimmt, muss man aufpassen, dass die interessantesten Sachen nicht passieren, während das Band gerade nicht läuft. Ich versuche aufzupassen, was die Leute machen, wenn sie zur Tür reinkommen. Wenn sie nur herumblödeln, bevor wir anfangen, ist der erste Take möglicherweise der beste des ganzen Tages.“

Jetzt, da er schließlich das Alter erreicht, das er schon immer als sein eigentliches betrachtet hat – fühlt es sich so an, wie er gehofft hatte?

Er lacht sein gutturales Halblachen. „Es ist die übliche Geschichte. Als ich jünger war, wollte ich gern älter sein. Jetzt bin ich älter und bin mir nicht mehr so sicher.

Bad As Me ist das jüngste Kapitel seines heroischen Versuchs, die gesamte Geschichte des amerikanischen Liedes in seiner Stimme zu versammeln – einmal wie ein geistig verwirrter Louis Armstrong zu klingen, dann in ein Marvin Gaye-Falsetto zu verfallen, um anschließend zu grunzen wie Lead Belly, und dabei stets ganz und gar er selbst zu sein. Waits unterteilt sein Repertoire gerne in "grand weepers“ (große Seufzer) and „grim reapers“ (grimmige Schnitter) oder „bawlers“ (Heulbojen) und „brawlers“ (Krakeeler); Bad As Me macht da keine Ausnahme. Es beginnt mit dem überzeugendsten runaway train, den man je zu hören bekam, und schaltet dann die Gänge zwischen verzweifelten, gebrochenen Balladen und einer Art von „Krawall“ hin und her, wie man ihn sich zu der Partyszene in Wo die wilden Kerle wohnen vorstellt. „Jeder, der schon einmal Klavier gespielt hat, würde gerne hören, wie es klingt, wenn man so ein Ding im 12. Stock aus dem Fenster wirft“, sagt Waits gerne. Seine Musik befriedigt dieses Bedürfnis. Die Band muss dabei mehr, als nur mithalten. „Es ist so wie Charlemagne oder einer dieser Alten gesagt hat: „Du willst Soldaten haben, die nicht anfangen, nach ihrem Trinkgeschirr zu suchen, wenn sie nach einem langen Marsch an einen Fluss kommen, sondern einfach hinein springen.““

Es scheint unangebracht, Waits zu fragen, ob er heute einen feineren Sinn für die Vergänglichkeit habe. Der Tod war für den Songwriter Waits stets ein nicht allzu weit entfernter Gedanke.

Ich schätze, für denjenigen von uns, die noch atmen, ist das Thema ein Dauerbrenner“, meint er dazu. Am Ende von Bad As Me setzt er in einem Bonustrack eine kleine Coda, die einen erschauern lässt – "What's it like when you die?" – und stellt sich den ewigen Kater in immer barockeren Gleichnissen vor.

Sind es diese Dinge, an die er denkt, wenn er nachts nicht schlafen kann?

Nun ja, ich schätze schon. Aber der Song ist aus einem Gitarrenriff heraus entstanden, auf das ich dann irgendwelche Reime vorwärts und rückwärts aufsagte 'Like a jail door closing, like a male whore dozing…' Und so weiter.“

Die freie Assoziation ermöglicht ihm seiner Meinung nach, eigentümliche Wahrheiten offen zu legen. Der andere Ort, an dem er schon immer nach diesen Überraschungen gesucht hat, ist seine Stimme. Verblüfft ihre Bandbreite selbst ihn noch von Zeit zu Zeit?

Ich denke schon“, sagt er. „Jimmy Stewart sagte, er habe aufgehört, Filme zu drehen, weil ihm nicht mehr gefiel, wie er auf der Leinwand aussah. Ich bin mehr der Typ, der sich sagt: I look like hell but I'm going to see where it gets me.“



Danke Ray, danke für alles“

Rückblickend frage ich mich aber dennoch, warum er als Kind so versessen darauf war, älter zu werden?

Wahrscheinlich weil ich wusste, dass ich mir selbst der Vater sein musste. Irgendwoher brauchte ich Reife und Führung, und ich musste sie mir selbst besorgen.“ Sein Vater war Spanisch-Lehrer. Er fuhr mit seinem Sohn aus der Vorstadt von Los Angeles über die mexikanische Grenze, um zum Friseur zu gehen und Mariachi-Bands zu hören. Als Tom zehn oder elf war, ging Frank aus der Wohnung und kehrte nie wieder zurück.

Waits entwickelte eine Obsession für Väter. Er besuchte seine Freunde, nicht um sie zu sehen, sondern um Zeit mit ihren alten Herrn zu verbringen. Mit zwölf trug er den Gehstock seines Großvaters und einen Filzhut. Wenn er dann bei ihnen am Tisch saß, räusperte er sich und sagte Dinge wie: „Also, wie lange warst du auf dem Ätna, Bob?“

Es sei ein natürlicher Prozess gewesen, seine Suche nach der Weisheit Erwachsener auf die Musik auszuweiten, meint er. Ich erinnere ihn daran, wie er seine Kindheit einmal mit den Worten beschrieb, er habe „vor einer Juke-Box gekniet und zu Ray Charles gebetet“. Hat er ihn jemals getroffen?

„Ich habe Ray nie kennengelernt, nein. Aber ich habe ihm auf einem Flugplatz einmal die Hand geschüttelt. Dieser Augenblick bedeutete mir sehr viel. Er war von einer Gruppe äußerst bedrohlich aussehender Leute umgeben. Es war, als wäre der Präsident in der Stadt, alle hatten Funkgeräte. Aber irgendwie kam ich an ihnen vorbei und schnappte mir Rays Hand. Es fühlte sich an wie das Größte, was ich jemals angefasst hatte, diese gewaltige Hand. Dann drückte ich sie und sagte bloß: 'Danke Ray, danke für alles.'“ Er hält inne und blickt etwas schief aus der Wäsche. „Ihm dürfte es wohl nicht soviel bedeutet haben, schätze ich. Aber darum ging es ja auch nicht.“

Obwohl Waits nie solch ein Mainstream-Star war wie Charles, gibt es nur wenige Künstler, die von ihren Anhängern so leidenschaftlich verehrt werden. Kommen heute Leute und wollen aus dem gleichen Grund ihm die Hand schütteln?

Es gibt ein paar Leute, die einem etwas sagen wollen. Und das bedeutet ihnen möglicherweise sehr viel. Aber das Seltsame an diesem Leben ist, dass man die Hälfte davon damit zubringt, die Leute dazu zu bringen, einem zuzuhören, und den Rest der Zeit verwendet man dann darauf, dass sie einen verdammt nochmal in Ruhe lassen.“


Kathleen, Weill, Occupy

Im Laufe der Jahre hat er äußerst wirksame Strategien entwickelt, seine Privatsphäre zu schützen. Was er über Autobiographien denkt, findet sich zusammengefasst in der Zeile aus „Tango Till They're Sore“ wieder: "I'll tell you all my secrets but I lie about my past.“ Waits tut alles, um sein Privatleben zu schützen. Interviewer, die versucht haben, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, haben sich immer wieder die Finger verbrannt. Als ihn der australische Talkmaster Don Lane mit seinen indiskreten Fragen langweilte, suchte Waits in der Live-Sendung erst einmal ein paar Minuten nach einem Aschenbecher. Als er aufsah, bemerkte er, wie unangenehm berührt sein Gastgeber davon war: „Was ist los, Don? Fängst du an zu schwitzen?“

Waits' ursprüngliche Bühnenpersönlichkeit und der Mythos, der sie umgibt, ist aus einem ähnlichen Antrieb zum Selbstschutz entstanden. Er empfinde eine Seelenverwandtschaft mit Clowns, sagt er und nennt den mexikanischen Helden Cantinflas als denjenigen Künstler, für den er die größte Sympathie empfindet. Obwohl er zu großem Pathos fähig ist, ist in seiner Musik niemals etwas völlig ernst. Selbst seine Liebeslieder transportieren das Bewusstsein der hinter der Liebe steckenden Funktionsweise mit sich. Er wurde mit Kurt Weill verglichen, noch bevor er Weills Musik und Brechts Philosophie kannte, war aber in das gleiche theatralische Terrain hineingestolpert.

[In seinem Waits-Proträt im New Yorker weist Sasha Frere-Jones darauf hin, dass “Talking at the Same Time” vonn der neuen Platte die modifizierte Version eines Stücks aus der Dreigroschenoper sein könnte: „Get a job, save your money, listen to Jane / everybody knows umbrellas will cost more in the rain / all the news is bad—is there any other kind? /and everybody’s talking at the same time / Well it’s hard times for some, for others it’s sweet / someone makes money when there’s blood in the street.“ „Radiohead dürften bei den Leuten von Occupy Wallstreet zwar beliebter sein, aber Waits hat die Lieder“, meint Frere-Johnes dazu. Da würde man gerne wissen, an welche Songs er sonst noch so denkt ... A.d.Ü.]

Kathleen schützt ihr Privatleben sogar noch mehr als ihr Mann, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass sie ebenso seine Seelenverwandte ist wie seine Muse. „Meine Frau will nicht, dass ich erzähle, wie lange wir schon verheiratet sind. Noch lieber wäre es ihr, ich würde erzählen, sie sei quasi eine Kinderbraut gewesen. Sie wissen schon: Sie haben uns gesagt, es sei nicht richtig, aber wir wollten nicht auf sie hören. Oder: Ich sagte ihr, ich würde warten, bis sie alt genug ist - so etwas.“

Brennan ermutigte Waits, sich den schrägen Sound zuzutrauen, zu dem er sich hingezogen fühlte. „Ich denke, dass jeder unüberbrückbare musikalische Differenzen in sich trägt. Sie wissen schon: Wenn man eine Party macht und denkt, die Leute, die man eingeladen hat, werden sich nicht verstehen. So ist es auch mit der Musik – es gibt Bereiche deiner musikalischen Psyche, die nie mit anderen in Berührung gekommen sind. Du fragst dich, ob du sie zusammenbringen sollst. Früher dachte ich, es sei besser, sie voneinander getrennt zu halten. Heute schmeiß' ich sie zusammen und sehe mir an, was passiert.“

Die erste Zusammenarbeit mit seiner Frau war die von der Kritik gelobte, triumphal schiefe Swordfishtrombones. Sie stellt Waits' musikalischen Wendepunkt dar, von dem an er nie wieder aufgehört hat, sich neu zu erfinden. Zunächst habe sie ihn auf einer sehr grundsätzlichen Ebene für neue Einflüsse geöffnet, meint er.

Ihre Bücher- und Platten-Sammlung war im Vergleich zu meiner geradezu beeindruckend. Als ich sie kennenlernte, waren die meisten meiner Platten mit Käse, Haaren, Öl und allem möglichen verklebt. Ihre dagegen steckten nicht nur in den Covern, sondern sogar in der Schutzhülle. Schon allein das war eine Art Offenbarung für mich.“ Seitdem teilen sich sich so ziemlich alles. Das Familienunternehmen wurde durch ihren mittleren Sohn Casey ergänzt, der auf den letzten paar Alben das Schlagzeug eingespielt hat.

Eine der Inspirationen für seine Musik ist Harry Partch, ein amerikanischer Pionier der vierziger und fünfziger Jahre, der nicht nur seine eigenen Instrumente erfand, sondern auch seine eigene Notation entwickelte. Waits' Musik erlaubt es ihm, einfach mal „mit einem Kantholz auf einen Schrank einzudreschen“.

"Auf der Welt gibt es nie nur eine Art zu leben"

Der Digitalisierung misstraut er. „Zur Musik gehören viele sperrige und schwere Gerätschaften.Die Vorstellung, sie könnte irgendwann einmal nur noch als eine Art Dampf existieren, der einem Lautsprecher von der Größe eines Zehn-Cent-Stückes entweicht, ängstigt mich. Das ist, wie sich selbst eine Spritze zu setzen oder allein zu essen.“

Ein ähnlich ungutes Gefühl beschleiche ihn, wenn er sehe, um wie vieles leichter es heute sei, Dinge zu finden und miteinander zu verbinden.

Sie haben die Anstrengung abgeschafft, die es erfordert, etwas zu finden. Dadurch ist das Gefühl dafür abhanden gekommen, was es bedeutet, etwas zu entdecken. Dass wir uns anstrengen müssen, ist die erste Erfahrung, die wir machen, wenn wir uns durch den Geburtskanal in die Welt hinaus zwängen. Eine ziemlich grundlegende Sache. Buch- und Plattenhändler waren in dieser Hinsicht einmal eine Art Orakel. Man ging in einen dieser alten, verstaubten Läden und es konnte sein, dass sie dich auf etwas aufmerksam machten, das dein Leben veränderte. So etwas gibt es nicht mehr.“

Surft er manchmal im Netz?

Nein. Aber ich habe auch immer noch ein wenig Angst vor dem Telefon - was es damit macht, wie wir uns unterhalten. Ich frage mich immer noch, ob die Juke-Box nicht den Tod der Musik bedeutet.“

Wenn er sich nicht im Einklang mit der Zeit befinde, könne dies an seinen Genen liegen, sagt er. Neulich habe er in einem Musikwörterbuch geblättert und eine Definition für „waits“ gefunden: „Das waren diese Typen, die von Tür zu Tür gingen, sangen, die neuesten Nachrichten verbreiteten und den Leuten sagten, welche Stunde geschlagen hatte. Ich fühlte mich dadurch auf merkwürdige Weise bestätigt.“

Trost findet er auch in dem Gedanken, dass die Zukunft nicht vorgegeben ist. „Wenn ich in die Wüste raus gehen will, um mir dort über einem Feuer eine Büchse Bohnen warm zu machen, dann kann ich das immer noch tun. In diesen Filmen – Gattaca oder wie sie alle heißen, gibt es immer nur diese Weltraum-Nummer. Auf der Welt aber gibt es nie nur eine Art zu leben. Es ist mehr wie auf einem großen Schrottplatz. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich hab keine Angst, am Ende mit Unterwäsche aus Alu-Folie auf einer Weltraumstation zu sitzen.“

In der Musik kommt er der Zeitreise so nahe wie nirgendwo sonst. Er zeigt auf die Juke-Box: „Das Studio ist abgerissen. Die Leute, die das Stück gespielt haben, sind tot. Die Instrumente sind verkauft. Aber man hört einen Augenblick, der sich vor sechzig Jahren ereignet hat und man hört ihn heute noch genauso klar wie damals. Das finde ich immer noch erstaunlich.“

Fotografien besitzen für ihn dieselbe gespenstische Qualität. Er zieht eine kleine Kamera heraus. „Früher hingen die Steckbriefe der zehn meistgesuchten Männer Amerikas auf der Post aus. Aber sie haben damit aufgehört. Ich hab sie jetzt hier.“ Er klickt durch die Bilder von flüchtigen Mördern und Terroristen. „Nur für den Fall, Sie wissen schon.“

Was empfindet er, wenn er morgens aufwacht: Paranoia oder Dankbarkeit?

Er nimmt sein Krähen-Buch, trinkt seine Tasse aus und steckt sein Heft mit Songideen in die Tasche. „Ich weiß nicht. Wie es bei Bob Dylan heißt: 'Fear and Hope: always sounds like a comedy team to me…'“





Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Holger Hutt

Redaktioneller Übersetzer

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