Um es gleich klarzustellen: Im Stein, der neue Roman von Clemens Meyer, ist eine Zumutung – aber eine, der man sich unbedingt aussetzen sollte. Es ist eine Zumutung, seitenlang einem Möchtegern-Radiomoderator und begeisterten Bordellgänger zuzuhören, der in einer fiktiven Show die Prostituierten in der Stadt benotet und Frauen gern als „Dreilochstuten“ bezeichnet. Und es ist auch nicht das, was man gemeinhin unter einem Lesevergnügen versteht, wenn detailliert aufgeschlüsselt wird, welche Praktiken sich hinter den Abkürzungen in den Sexanzeigen verbergen – von AV für Analverkehr über EL für Eierlecken bis zu KB für Körperbesamung.
Meyers 560-Seiten-Werk nimmt den Leser mit in die Welt des gekauften Sex, der Rotli
ften Sex, der Rotlichtclubs, Wohnwagennutten und einschlägig vermieteten Appartements. Man taucht tief in die Gedankenwelt von Huren ein, die bis zum nächsten Freier stundenlang die Zeit totschlagen müssen. Und man lernt die Männer kennen, die mit diesen Frauen viel Geld verdienen. Indem sie den Prostituierten Dienstwohnungen andienen, für deren Benutzung eine saftige Tagespauschale fällig ist. Oder indem sie als Clubbetreiber an jedem Getränk und jeder Dienstleistung auf den Zimmern im Obergeschoss mitverdienen. Die Mädchen mit ihren „Herzen wie Diamanten“ würden natürlich alle aus freien Stücken bei ihnen arbeiten, betonen diese Herren immer wieder.Wer denkt da jetzt?Der Roman mutet dem Leser aber nicht nur mit seinem Inhalt, sondern auch mit seiner Form einiges zu. Er folgt keinem klaren Handlungsstrang, sondern kreist um sein Thema. Er nimmt hier einen Faden auf, lässt ihn da wieder liegen, um einer anderen Figur, einer anderen Lebensgeschichte zu folgen. Ständig werden Perspektive und Tonlage verändert. Innerer Monolog, Bewusstseinsstrom und allwissender Erzähler wechseln sich ab. In einem dem Nouvelle-Vague-Kino abgeschauten Jump Cut wird auch schon mal mitten im Absatz von der Innensicht einer Figur zur anderen geschnitten, so dass der Leser erst einen Moment braucht, um zu verstehen, wer da jetzt gerade wieder denkt.Meyer arrangiert die vielen Stimmen zu einem großen Chor, der davon erzählt, wie der Kapitalismus nach dem Mauerfall im Osten auch im Sexuellen Einzug hält. Aufbau Ost im Horizontalen, die Durchökonomisierung der Verhältnisse bis ins Bett. Und auf diesem Markt der Körper hat jede Zuwendung, jede Aufmerksamkeit ihren exakt benennbaren Preis. Hauptort der Handlung ist „die große Stadt“, ein ins metropolishaft Phantastische überzeichnetes Leipzig. Knallhartes Monopoly wird hier um Territorien, Einfluss und Immobilien gespielt. In der Nachwendezeit probieren sich viele aus. Mit zunehmender Professionalisierung der Geschäftsstrukturen ziehen viele Prostituierte dann „weg von der Straße, rein in den Stein“, wie ein Zuhälter die entsprechenden Wohnungen nennt. Und damit den Buchtitel erklärt.Schnöde AlltäglichkeitOstdeutsche Schläger, westdeutsche Zuhälter, ausgebrannte Polizisten und ein verzweifelter Vater auf der Suche nach seiner ans Milieu verlorenen Tochter erzählen von ihren Ängsten und Träumen. Und das alles in einer Sprache, die so genau dem Leben abgelauscht ist, dass eine große Unmittelbarkeit entsteht, dass man die Figuren beim Lesen tatsächlich zu hören meint. Meyer moralisiert nicht, sondern lässt die Protagonisten ihre eigene, mitunter eigenwillige Moral entfalten. Der Leser soll sich selbst ein Urteil bilden.Mit einem genauen Gefühl für Stimmungen entgeht Meyer dabei auch den zwei Gefahren, die das Schreiben über Prostitution immer begleiten. Zum einen der Gefahr des Sozialkitschs – die Literaturgeschichte ist ja voll mit bemitleidenswerten „gefallenen Mädchen“. Die Prostituierten hier berichten hingegen nicht klagend, sondern mit großer Abgeklärtheit von ihrer Arbeit. Wobei gerade diese schnöde Alltäglichkeit nachhaltig irritiert. Was ist passiert, dass man dieses Leben irgendwann als völlig normal empfindet?Die andere Gefahr ist jene des Voyeurismus. Bei aller Schonungslosigkeit, mit der das Geschäft mit dem Trieb beschrieben wird, tappt der Text nie in diese Falle. Meyer weiß, wann etwas benannt werden muss – und wann nicht. Das zeigt sich gut in einem Kapitel, in dem er beschreibt, was in einer Minderjährigen vorgeht, die in einer Wohnung täglich zur Prostitution gezwungen wird. Sie erzählt von Disneys Lustigen Taschenbüchern, von der Welt von Donald und Dagobert Duck, in die sie sich in Gedanken flüchtet. Das Grauen dahinter muss nicht mehr ausbuchstabiert werden.Für das Minderjährigen-Bordell gab es in Leipzig eine reale Vorlage. 1993 stürmte die Polizei dort das Jasmin in der Merseburger Straße, in dem fünf Mädchen unter 18 an Freier verkauft wurden. Im Roman wird daraus eine Wohnung in der Mecklenburger Straße. Genauso sind einige andere Figuren und Ereignisse von Vorbildern des sogenannten „Sachsensumpfs“ inspiriert – jenem bis heute nicht richtig aufgeklärten Gestrüpp von Justiz, Politik, Halbwelt und Immobilienwirtschaft.Bei Meyer, der 2006 mit seinem ersten Roman Als wir träumten über eine Leipziger Jugendgang mit einem großen Knall die Literaturbühne betrat, und dem dort seitdem immer wieder die Rolle des sozialen Underdogs zugewiesen wird, ist die Versuchung noch größer als bei anderen Autoren, das Erzählte als kaum verändertes Abbild der Realität zu verstehen. Abgesehen davon, dass das ein stark verkürztes Literaturverständnis verrät, tut es diesem Buch in besonderem Maße Unrecht.Denn bei aller Akribie, die der Autor auf Details aus dem Prostituiertenalltag verwendet, Meyer zielt auf mehr als nur auf einen Milieuroman ab. Ihn interessiert das Epos, die Überhöhung über das konkrete Zeitgeschehen hinaus. Das zeigt sein Stilwille. Deswegen ist die „große Stadt“ auch nicht mit Leipzig identisch. Und deshalb gleiten ausgreifende Passagen auch ins Traumhafte, Phantastische, Surreale hinüber – nicht nur, weil der Wahrnehmung einzelner Figuren im Drogenrausch oder im angeschossenen Zustand nicht zu trauen ist. Nein, das Phantastische hat hier eine andere Funktion. Es geht um die Kraft der Literatur an sich, es geht um das Verlassen jener Ebene, auf der nur die Fakten zählen.Die Erzählung endet, wie sie begonnen hat – mit den Reflexionen einer Prostituierten. „Ich möchte ein Pferd, irgendwann einmal“, denkt sie mitten in der Rekapitulation ihres Arbeitstags. Dass Menschen sich ihre Fähigkeit zum Träumen bewahren, egal unter welchen Umständen, ist die versöhnliche Botschaft am Ende dieses verstörenden Romans.
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