Die Ironie eines Streiks

Arbeitskampf Die großen Gewerkschaften sollten sich an den Piloten ein Vorbild nehmen. Oder können wir etwa auf Krankenschwestern verzichten?
Ausgabe 14/2014
Streikende Lufthansa-Piloten am 2. Mai am Frankfurter Flughafen
Streikende Lufthansa-Piloten am 2. Mai am Frankfurter Flughafen

Foto: Thomas Lohnes/ AFP/ Getty Images

Die Piloten der Lufthansa streiken: 3.800 Flüge fallen aus, 425.000 Menschen sind betroffen. Das hat es noch nie gegeben. Eine Welle der Solidarität schlägt den Streikenden nicht gerade entgegen. Im Gegenteil. Angesichts eines Durchschnittslohns von 181.000 Euro fragt die Bild-Zeitung: „Sind die Lufthansa-Piloten völlig abgehoben?“ Und in der FAZ wundert sich Holger Steltzner: „Darf jede Minderheit die Mehrheit zur Geisel nehmen?“ Diese öffentlichen Reaktionen machen aus dem Streik eine gesellschaftspolitische Lehrstunde: Die Bewertung der kapitalistischen Mechanik hängt vom Standpunkt ab.

Es ist bemerkenswert, dass den Kritikern des Pilotenstreiks die besondere Ironie dieser Situation gar nicht auffällt. Denn die Piloten verhalten sich, wie es bei uns üblich ist: Sie wollen ihren Profit maximieren. Unternehmern und Managern ist das nicht nur erlaubt. Man erwartet es geradezu von ihnen. Bei allen anderen ist das etwas anderes. Für sie sollen moralische Grenzen gelten, die oben längst außer Sicht geraten sind. Wo kämen wir hin, wenn sich jeder so verhielte wie die Eliten?

Sorgen um Gewinn

In der Union denkt man schon darüber nach, das Streikrecht einzuschränken. Es könne nicht sein, dass eine Gewerkschaft, deren Mitglieder an wichtigen Schaltstellen säßen, ihre Position nutze, bei der Tarifentwicklung schneller voranzukommen als andere, sagte der Vizechef der Fraktion Arnold Vaatz. Aber hat sich Herr Vaatz ähnliche Gedanken gemacht, als in der Zeit des großen gesellschaftlichen Umbaus, zwischen 1998 und 2006, die Vorstände der 30 größten deutschen Unternehmen ihre Bezüge verdoppelten?

Mit echtem Verständnis bemerkt die Süddeutsche Zeitung: „Der Streik trifft das Unternehmen mitten in einem Sanierungsprogramm, durch das der Gewinn bis 2015 um 1,5 Milliarden Euro verbessert werden soll.“ So würden sich die Piloten wahrscheinlich auch liebend gern sanieren.

Großer Nachholbedarf

Lokomotivführer, Fluglotsen, Piloten – das sind kleine Berufsgruppen, die über einen großen Hebel verfügen. An die Stelle des alten Klassenbewusstseins ist bei ihnen das wohlverstandene Eigeninteresse getreten. Ihre Gewerkschaften verhalten sich wie sich jedes Unternehmen: Sie denken an sich selbst zuerst. Nur Linke kommen auf die Idee, dem Daimler-Konzern vorzuwerfen, er nehme mit der Auslagerung von Produktion ins kostengünstigere Ausland die deutsche Gesellschaft in Geiselhaft. An die Gewerkschaften stellt man aber ohne Weiteres höhere Ansprüche. Dabei sorgen sie dafür, dass Angebot und Nachfrage in ein vernünftiges Gleichgewicht kommen.

Die Gesellschaft will, dass die Flugzeuge fliegen und die Züge fahren? Dann soll sie auch entsprechend dafür bezahlen. Es ist das Rätsel der Gewerkschaftsbewegung, warum es nur die kleinen Verbände sind, die ihre Aufgabe ernst nehmen und sich gegen das deutsche Lohndumping stellen. Wir brauchen ja nicht nur Piloten und Lokführer. Wir brauchen Krankenschwestern, Müllfahrer, Volksschullehrer und, und, und. Für all diese Berufsgruppen gilt in Wahrheit das Gleiche: Wir können auf sie ebensowenig verzichten wie auf die Piloten. Die mageren drei Prozent mehr Gehalt, die Verdi gerade für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst herausgeholt hat, zeigen, dass die großen Gewerkschaften da noch viel nachzuholen haben.

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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