Ist das unser Weimar?

Politik Der rechte Rand in Deutschland erstarkt immer mehr. Das ist das Versagen der großen Parteien: Sie drängeln sich in der Mitte

Wenn wir von Weimar reden, meinen wir einerseits eine Zersplitterung des Parteiensystems, eine Aufpaltung in immer kleinere Einheiten, die die Handlungsfähigkeit der Politik gefährdet. Andererseits eine Radikalisierung der Sprache und der Taten. Beides beobachten wir. Die beiden großen Parteien haben die Aufgaben vernachlässigt, die ihnen in unserem politischen Gefüge gegeben sind.

Zu Beginn der Bundesrepublik gab es ein paar Großthemen, die das Potential hatten, das politische System zu zerreissen: die Wiederbewaffnung, die Westbindung, später die Ostpolitik. Es gelang im Lauf der Zeit, einen Konsens herzustellen. Oberhalb dieses gemeinsamen Fundaments jedoch pflegten die Parteien ihre Unterschiede.

In einem stabilen politischen System verfügen die Parteien gerade über so viel Gemeinsamkeit wie nötig und so viel Differenz wie möglich. Diese Regel haben sie in den vergangenen Jahren nicht nur vernachlässigt – sie haben sie umgedreht: auf der Jagd in die Mitte versuchen sie sich so ähnlich zu sein, wie es geht. Das ist für beide großen Parteien eine Katastrophe.

Es muss eine Kernidentität der Parteien geben, die nicht verhandelbar ist, die sich keinem Sachzwang unterordnet, für die im Zweifelsfall auch auf die Macht verzichtet wird. Diese Identität definiert sich im Wandel der Zeiten unterschiedlich. In den sechziger Jahren gehörte das Festhalten an der Oder-Neiße Linie zum Kernbestand nationaler Identität, wie die CDU sie vertreten hat, heute nicht mehr. Und auch für die soziale Gerechtigkeit, das das Anliegen der SPD sein sollte, muss man heute anders streiten als in der Vergangenheit.

Das Problem ist nur: wer glaubt der SPD, dass ihr dieses Thema überhaupt ein echtes Anliegen ist? Eine Studie der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau hat gerade festgestellt, dass vierzig Prozent der deutschen Haushalte heute weniger Geld haben als vor zwanzig Jahren. Gleichzeitig stieg das verfügbare Einkommen der oberen Einkommensgruppe um mehr als 38 Prozent. Das ist ungeheuerlich. Der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW, Marcel Fratzscher, sagt schlicht: „Die soziale Marktwirtschaft existiert nicht mehr.“ Wohlgemerkt, KfW und DIW sind nicht als Sprachrohre der Linkspartei bekannt.

Dem Versagen der SPD steht der Wesenswandel der CDU gegenüber, der für ihre Anhänger nicht weniger schmerzhaft ist. Nachdem Angela Merkel mehr oder weniger alle Traditionen der christlich-konservativen Union geschreddert hatte, kommt nun die nationale Identität dran. Aus Unionssicht steht mit der Flüchtlingspolitik der Regierung ja nicht weniger auf dem Spiel als das.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden