Sarrazin und Lügen zu Weihnachten – Nachtrag

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Es gab hier über die Feiertage eine angeregte Diskussion zu meinem Blogeintrag "Die FAZ, Sarrazin und Lügen zu Weihnachten".

Dazu erreichte mich heute eine Nachricht aus dem Institut für Sozialwissenschaften der Berliner Humboldt Universität. Ich wurde darin auf das dort von der Politologin Naika Foroutan herausgegebene Dossier "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand" aufmerksam gemacht – herzlichen Dank dafür.

Es ist bei dieser Debatte offenbar schwierig, der Vernunft den Weg zu ebnen, das zeigten manche Kommentare im Blog und im Netz. (In der Tat war ich überrascht, wieviel verbale Gewalt bei diesem Thema offenbar zu mobilisieren ist. Eine Erfahrung, die auch andere gemacht haben, die Sarrazin öffentlich widersprachen. Fleischhauer schreibt darüber in seinem Spiegel-Artikel).

Also hier noch einmal mein Hinweis: Es geht mir nicht einmal in erster Linie darum nachzuweisen, wo Thilo Sarrazin irrt. Es geht mir darum, wie auch schon im Weihnachtsblog, darauf aufmerksam zu machen, dass seine Behauptung, er stelle unwidersprochene und unwiderlegbare Tatsachen dar, falsch ist. Sarrazin handelt mit Thesen. Nicht mit Fakten. Es ist eine Technik des Demagogen, die Grenzen dazwischen verschwimmen zu lassen.

Die Studie finden Sie hier.

Die wesentlichen Ergebnisse im Folgenden:

Sichtbare Dynamik der Bildungsverläufe
Die konsequent vertretene These Thilo Sarrazins, dass speziell bei der Gruppe der Muslime in Deutschland keine positive Entwicklung der Bildungssituation zu konstatieren sei, die auf kulturelle Grundmuster der Sozialisation zurückzuführen ist, findet keine Entsprechung im statistischen Datenmaterial und ist empirisch nicht haltbar. Die Dynamik des Bildungserfolges ist über die Generationenfolge klar erkennbar und müsste in eine Zukunftsprognose als solche mit einfließen.

Bildungsanstieg bei zweiter Generation
Empirisch ist nachweisbar, dass bei sämtlichen Zuwanderungsgruppen mit muslimischem Migrationshintergrund die Angehörigen der zweiten Generation deutlich häufiger als ihre Elterngeneration das deutsche Schulsystem mit einem Schulabschluss verlassen. Dies widerspricht der These Sarrazins, dass es auch über die Generationenfolge hinweg keine positive Entwicklung gäbe.

Personen mit türkischem Migrationshintergrund liegen zurück, aber Dynamik des Bildungsaufstiegs am höchsten
Laut Mikrozensus 2008 haben in der Gruppe der Personen mit türkischem Migrationshintergrund 22,4% der Bildungsinländer einen höheren Bildungsabschluss (Abitur oder Fachabitur). Die erste Generation der Gastarbeiter hatte hingegen nur zu 3% einen höheren Bildungsabschluss. Dies ist ein Bildungsanstieg von ca. 80%, obwohl gerade diese Gruppe von Sarrazin als besonders lernunfähig dargestellt wurde.

Höhere Bildungsaspiration bei Familien mit türkischem Migrationshintergrund
Sarrazin unterstellt dieser Gruppe auch Lernunwilligkeit. Dennoch wird gerade Familien mit türkischem Migrationshintergrund eine höhere Bildungsaspiration im Vergleich zu Familien ohne Migrationshintergrund beim gewünschten Schulabschluss Abitur attestiert.

Angleichung der Bildungssituation über die Zeit
Die PISA-Studie 2009 stellt einen Rückgang der Disparitäten durch einen stetigen Bildungsanstieg bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund fest, während im Erhebungszeitraum bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund kaum Kompetenzsteigerungen zu verzeichnen sind.

Zahl der Personen mit türkischem Migrationshintergrund höher bei Hartz IV, aber niedriger als dargestellt
Hier sind die größten Schwächen innerhalb der Gruppe der Personen mit türkischem Migrationshintergrund zu beobachten, die laut Mikrozensus 2008 zu 9,5% ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Hartz-IV bestreiten, während dies bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund nur zu 3,5% zutrifft. Dennoch steht diese Zahl der durch Sarrazin suggerierten Hartz-IV-Quote von 40% stark abweichend gegenüber.

Sprachkenntnisse bei großer Mehrheit gut
Der Vorwurf Sarrazins, gerade die Personen mit türkischem Migrationshintergrund würden sich nicht bemühen, Deutsch zu lernen, ist empirisch nicht haltbar. Allensbach hat im letzten Jahr für 70% der Personen mit türkischem Migrationshintergrund gute bis sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache ermittelt.

Kopftuchtragen hat abgenommen
Entgegen der geäußerten Annahmen von Thilo Sarrazin, dass das Kopftuch über die Generationenfolge in Deutschland zunehme, nimmt die Häufigkeit des Kopftuchtragens in der zweiten Generation signifikant ab. 70% der Frauen mit muslimischem Migrationshintergrund tragen kein Kopftuch. Fast 23% geben an, immer ein Kopftuch zu tragen.

Über 90% der Schüler nehmen am Schwimmunterricht teil
Gerade der Schwimm- und Sportunterricht wird von Sarrazin als ein Kriterium für die Verweigerung der kulturellen Integration markiert. Dabei liegt die Zahl der Kinder, die an diesen Angeboten nicht teilnehmen bei 7-10%. Auch hier wird eine Phantomdebatte geführt, die den empirischen Erkenntnissen nicht gerecht wird.

Nachbarschafts- und Freundschaftskontakte
Obwohl Sarrazin sich vertiefende Parallelgesellschaften und Abschottung prognostiziert, werden die Kontakte von „Muslimen“ zu Personen deutsch-deutscher Herkunft in der Nachbarschaft empirisch als zahlreich dargestellt; in fast allen Gruppen der Muslime haben mehr als drei Viertel der Befragten häufig Freundschafts- oder Nachbarschaftskontakte. Auch die Kontakte am Arbeitsplatz sind hoch. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat gemessen, dass die Personen mit türkischem Migrationshintergrund sich am liebsten deutsche Nachbarn wünschen, während bei der Gruppe der deutsch-deutschen der Wunsch nach türkischen Nachbarn an letzter Stelle rangiert.

Keine „Opfer-Mentalität“ sondern aktive Selbstkritik
Die Verantwortlichkeit für gelingende Integration wird selbst in bestimmten Kreisen türkischer Herkunft, die unter dem Generalverdacht der ‚Integrationsverweigerung‘ oder gar der ‚Integrationsunfähigkeit‘ stehen, in deutlich höherem Maße der Zuwandererbevölkerung und damit sich selbst zugeschrieben und nicht der Mehrheitsbevölkerung. In der zweiten Zuwanderergeneration verstärkt sich diese Einschätzung.

Interethnische Partnerschaften
Thilo Sarrazin unterstellt speziell der Gruppe der Muslime eine Verweigerungshaltung gegenüber interethnischen Partnerschaften. Auch hier widersprechen die Trends der Entwicklung seinen Aussagen. Unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen der ersten und der folgenden Einwanderergeneration wird auch für „die Muslime“ eine Tendenz zu mehr interethnischen Partnerschaften in späteren Generationen erkennbar. Besonders ab der zweiten Generation steigt die Zahl der binationalen Partnerschaften.

Zahl interreligiöser Ehen bei muslimischen Männern am höchsten
Trotz eines rückläufigen Trends haben muslimische Männer im Vergleich von Christen und Muslimen die stärkste absolute Tendenz, Frauen außerhalb ihrer eigenen Religionsgemeinschaft zu ehelichen. 33,5% der muslimischen Männer heirateten im Jahr 2008 eine nicht-muslimische Frau.

Interethnische Partnerschaften bei Deutschen ohne Migrationshintergrund gering
Die Deutsch-Deutschen heiraten zu 92% Deutsche OHNE Migrationshintergrund.

Kriminalitätsrate nicht in Abhängigkeit zur Religiosität
Der von Sarrazin suggerierte Zusammenhang zwischen Islam und Kriminalität in Deutschland wird von seriösen Forschungseinrichtungen und der Polizei zurückgewiesen. Vielmehr gelten soziostrukturelle Bedingungen und Gewalterfahrung in der Familie als zentrale Motive für Jugendkriminalität.

Deutschland droht zum Auswanderungsland zu werden
Während Thilo Sarrazin befürchtet, Deutschland würde durch die stetige Zuwanderung bald in seinen Strukturen nicht mehr erkennbar sein und zukünftig mehrheitlich aus arabisch- und türkischsprechenden muslimischen Menschen bestehen, konstatiert die Statistik, dass gerade bei der Gruppe der Personen mit türkischem Migrationshintergrund seit acht Jahren ein negativer Wanderungssaldo zu verzeichnen und die Nettozuwanderung von türkischen Staatsangehörigen seit 2002 rückläufig ist.

Zuwanderungselite wendet sich ab
Bei Studierenden mit türkischem Migrationshintergrund äußern 36% Prozent den Wunsch, in die fremde Heimat der Eltern abzuwandern.

(Auszug aus dem Dossier "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland", Hrsg.: Naika Foroutan, Korinna Schäfer, Coskun Canan, Benjamin Schwarze, unter Mitarbeit von Damian Ghamlouche, Sina Arnold, Monika Roth)

Foto auf der Startseite: chaouki / Flickr

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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