Warum macht Orange den Amerikanern Angst?

Der Koch Der Koch beschäftigt sich wieder mit ästhetischen Fragen der Küche - diesmal nicht mit Geschirr sondern mit der Wirkung der Farben, wie etwa künstlichem Blau von M&M's
Ausgabe 37/2013
Warum macht Orange den Amerikanern Angst?

Illustration: Otto

Das Auge isst mit. Daher habe ich mich in der vergangenen Woche mit Geschirr beschäftigt: Das Thema lässt mich noch nicht los. Ich habe in der U-Bahn zwei Mädchen beobachtet, die sich eine Packung M&Ms teilten. Das eine Mädchen hatte die Tüte weit aufgerissen auf dem Schoss liegen. Sie sortierte von den Schokolinsen, die mit farbigem Zuckerguss umhüllt sind, alle blauen aus. Den Rest bekam ihre Freundin – mit charmantem Augenaufschlag: „Du weißt doch, die blauen schmecken einfach am besten. Du kannst alle anderen haben.“ Solche Erlebnisse machen mich neugierig.

Ich stieg gleich an der nächsten Station aus, allein zum Zweck der Schnellverkostung einer Packung Schokodrops. Ich kann nicht ausschließen, dass mir die geballte Zuckerladung augenblicklich das Geschmackszentrum verklebt hat. M&Ms schmecken alle gleich. Es ist wie bei Gummibärchen, über die man in meiner Generation ab und an Geschmacksdiskussionen führen muss. Das Scheitern beim Versuch, mit verbundenen Augen die angeblich wohlschmeckendsten weißen Exemplare herauszuschmecken, führt selten zur Einsicht. Gummibärchen müssen einfach unterschiedliche Aromen haben. Ich stieg erleichtert wieder in die U-Bahn, naschte weiter an den Schokolinsen und fragte mich, wie junge Menschen darauf kommen, dass zartes Petrol schmeckt. Haben Sie von klein auf zu viel Schlumpfeis gegessen? Ist ihnen nicht bewusst, dass diese Farbe in der Natur nicht vorkommt? Selbst Blaubeeren haben einen starken Rotstich. Blaukraut, Auberginen und Pflaumen sind violett. Ich war ratlos. Aber ich entdeckte, dass ich die letzten Minuten unbewussst mehr nach gelben und roten M&Ms gegriffen hatte, denn das Innere der Tüte starrte mir auf einmal braun entgegen. Ich also auch!

Orangener Eidotter ist abschreckend

Wie sehr unser Auge den Geschmack beeinflusst, haben Wissenschaftler bereits 2001 an Sommelierschülern vorgeführt. Sie färbten Weißwein rot. Die angehenden Weinkenner schmeckten bei der anschließenden Verkostung ausnahmslos typische Merkmale eines Rotweins heraus: Kirschen, Schokolade, sogar Tabak. Ungefärbt erkannten sie in dem Weißwein dagegen Aromen von Zitrus, Honig oder Lychee. Im Hirn nehmen die visuellen Fähigkeiten viel mehr Platz ein als die gustatorischen, erklären Neurologen. Deshalb ist das Auge eine so mächtige Hilfszunge. Man kann dafür sogar allgemeine Regeln aufstellen: Viele Menschen vermuten hinter der Farbe Rot mehr Süße und Europäer hinter tieferen Farben mehr Geschmack. Wenigstens, wenn es sich um Eigelb handelt. In den USA dagegen wirkt der orange Dotter hiesiger Eier eher abschreckend. Man wäre kein Koch, wenn man solche Erkenntnisse links liegen ließe.

Sich am Herd schon einen Kopf zu machen, wie ein Gericht vom Augen- zum Gaumenschmaus wird, macht die Sache einfacher. Ich habe schon erlebt, wie die perfekt gebackene Kruste Gäste einer Lasagne gegenüber milder gestimmt hat. Bei der Zubereitung der Bolognese war das Glas mit Muskat in die Sauce gefallen. Missgeschicke zu verdecken ist das eine, Ästhetik das andere. Manchmal verwüste ich Teller sogar, weil ich überzeugt bin, der Anblick kann dem Geschmack nichts antun. Deswegen richte ich gerne an. Es braucht dafür nicht viel. Ein Risotto schmeckt ein bisschen feiner, wenn frische Kräuter und ein paar zurückgehaltene Zutaten darüber gestreut werden und nicht nur aus der Reispampe hervorspitzen. Suppeneinlagen wähle ich nach Form und Farbe aus, ich mag Kontraste wie Rote Bete in der Kartoffelsuppe. Und Beilagen lassen sich auch auf dem Teller verteilen und nicht nur in die obere linke Ecke setzen. Das kann aus einem alten Rezept ein völlig neues Gericht machen.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

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