Wie schmeckt rohes Fleisch?

Koch oder Gärtner? Jörn Kabisch beantwortet alle Fragen rund um den Herd. Heute: Geschnitten oder gewolft? Und warum Rinder-Tatar nichts mit den Tataren zu tun hat

Es war ein feines Staccato auf dem Hackbrett. Ich war in ein Restaurant geraten, in dem Tatar frisch zubereitet wurde. Und weil die Küche zum Gastraum hin offen war, konnte ich zusehen und zuhören. Seit ich als Junge vor dem Pizzabäcker stand, der die Hefefladen in die Luft warf, ist es für mich ein erhebendes Gefühl, wenn Köche ihr Können zeigen. Pizzajongleure sind fast ausgestorben. Da ist man doch glücklich, wenn mal ein Stück Rinderfilet im rhythmischen Schwingen des Messers aufgeht.

Doch ich will heute nicht von frühen Formen der Eventgastronomie erzählen, sondern von Tatar, was nicht mehr ist als einfaches Rinderhack und zugleich die Höchststufe, rohes Fleisch zu verzehren. Ich muss feststellen, in den Restaurants, die ich aufsuche, ist Tatar im vorigen Jahr Standard auf den Speisekarten geworden.

Wenn Rindfleisch mit der Hand geschnitten wird und das kurz vor dem Servieren, ist es eine besondere Delikatesse. Das Fleisch behält Spannung und damit mehr Biss, wenn es nur unters Messer kommt. Durch den Fleischwolf gepresst fühlt es sich auf der Zunge breiig an, finde ich. Das A und O ist aber natürlich ein gutes Ausgangsprodukt. Es gibt in Bill Bufords Buch Hitze eine Passage, da bekommt der Autor von einem italienischen Fleischer erklärt, schlechtes Rindfleisch erzeuge ein leicht taubes, pelziges Gefühl oben am Gaumen. Ich wollte das kaum glauben. Aber Tatsache, Rindertatar kann einen ziemlichen Flaum im Mund verursachen.

Der Legende nach soll die Bezeichnung „Tatar“ übrigens auf das alte mongolische Reitervolk zurückgehen. Jules Verne beschreibt in Der Kurier des Zaren, wie die Tataren morgens rohes Fleisch unter die Sättel legten, um es bis zum Abend mürbe zu reiten. Puristen glauben deswegen, echtes Tatar bestehe aus Pferdefleisch.

Alles reine Phantasie, wie der französische Küchenhistoriker Patrick Rambourg herausgefunden hat. Rohes Hacksteak war zur Zeit Jules Vernes eine Neuheit auf Frankreichs Speisekarten, noch hieß es „Steak à l‘Americaine“. Später wurde es mit „Sauce tartare“ serviert, einer Mayonnaise mit hartgekochtem Eigelb. Dass die dem Gericht seinen endgültigen Namen gab, wie Rambourg sagt, finde ich glaubhaft. Schließlich schwingt in der Bezeichnung Wildheit, Ursprünglichkeit und Barbarentum mit, die man sich mit dem Gericht einverleiben will. Zugleich ist diese Begriffsverschiebung äußerst vielsagend, wie sich Anfang der 20. Jahrhunderts die Vorstellungen von Ost und West in den Köpfen des alten Europas vertauscht haben. Ehrlich: Bœuf Stroganoff war doch auch noch nie ihr Fall!

Heute wird Tatar kaum noch mit Mayonnaise serviert, hat sich aber als eine eigene Zubereitungsart eingebürgert, wenn Getier roh bleibt und klein gehackt wird. Thunfisch, Jakobsmuscheln oder mariniertes Wildschwein, all das habe ich schon als Tatar gegessen und sehr genossen. Natürlich auch Matjes, nach Rind der zweite Tatar-Klassiker.

Matjes gibt es übrigens gerade ganz frisch, Anfang Juni ist die Hauptfangzeit für den Hering, der anschließend nur teilweise ausgenommen in die Salzlake kommt. Ihr Fischhändler sollte gerade neuen haben, sonst wechseln Sie den Laden – am besten sofort. Fein gehackt mit Avocado, Gurke und Dill eine tolle Vorspeise.

Wenn Sie doch lieber beim Original bleiben wollen, vergessen Sie nicht: Die BSE-Krise ist keine zehn Jahre her. 2008 gab es noch zwei Verdachtsfälle in Deutschland, und die Landwirte haben verlangt, das Verbot von Tiermehl im Futter wieder aufzuheben, wegen der hohen Getreidepreise. Ein bisschen Ekel hebt ja den Genuss. Als ob einem eine kleine Dosis Adrenalin in den Gaumen schießt.

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Geschrieben von

Jörn Kabisch

Stellvertretender Chefredakteur des Freitag von 2008 - 2012 und Kolumnist bis 2022, seitdem Wirt im Gasthaus zum Schwan in Castell

Jörn Kabisch

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