Paul Tillich vs Navid Kermani?

Religiöse Analphabeten Religiöser Analphabetismus, was für ein monströser Kampfbegriff auf missionierendem Kriegspfad? War vor der Erfindung des Alphabets das Religiöse nicht längst da?

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"Religiöser Analphabetismus", erinnert das nicht an den Kampfbegriff "ideologischer Analphabetismus" im Kalten Krieg der Blöcke?, um die horrenden Ausgaben gegenseitig atomarer und konventioneller Aufrüstung in sogenannten Verteidigungsgemeinschaften, Nato im Westen, Warschauer Vertrag im Osten, zu lasten der Zivilgesellschaften zu rechtfertigen?

Navid Kermani, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhhandels 2015, prägt in seinen Schriften, Interviews, Reden in schöner Sprache in fulminantem Bangen den Begiff vom

"Religiösen Analphabetismus",

um auf die Gefahr zu verweisen, dass durch diesen mehr und mehr Menschen im christlichen Abendland der Menschheitssegen, der in europäischer Kultur, Literatur, Musik,erwachsen aus religiösem Raum, verborgen liegt, wie ein Buch mit "Sieben Siegeln" verschlossen bleibt.

Zuletzt hat sich der deutsche Poet, Dramaturg und Schriftsteller Botho Strauß in seinem als Glosse verfaßten Spiegel- Essay "Der letzte Deutsche" dem kulturellen Bangen Navid Kermanis als "Rasender Bote" im anschwellenden Ungemachgesangs zugesellt.

Dabei erinnert dieses Bangen mit gleichzeitigem Verlangen nach moralisch- militärisch- religiöser Aufrüstung mit solchen Kampfbegriffen wie "religiöser Analphabetismus" historisch, damals Bangen um Unterlegenheit durch "ideologischen Analphabetismus" im Westen gegenüber dem Osten, an den Beginn des Kalten Krieges mit der Berlin Blockade 1948, als die UdSSR, ideologisch hochgerüstet, anders als die USA, als Siegermacht im 1945 niedergeworfenen Deutschen Reich in ihrem Besatungsteil militärisch in Kriegesstärke verharrte, nicht bereit war, Truppen in Europa abzubauen, geschweige denn zurückzuziehen.

-http://derstandard.at/1392687087883/Problematisch-ist-der-religioese-Analphabetismus

Kermani: "Problematisch ist der religiöse Analphabetismus"
INTERVIEW
STEFAN GMÜNDER
4. März 2014, 17:32

STANDARD: Ein weiterer markanter Satz lautet: Die Psychologie sei die neue Religion. Fehlt es unserer Gesellschaft an Transzendenz?

Kermani: Jedenfalls an religiösem Wissen, denn die Gesellschaft versperrt sich damit den Zugang zu den Grundlagen der eigenen Kultur. Die deutschsprachige Dichtung mindestens bis zum Zweiten Weltkrieg ist genauso wenig wie klassische Musik angemessen zu verstehen ohne das religiöse, vor allem auch biblische Wissensarchiv und ein Grundsensorium, dass es Dinge in dieser Welt gibt, die über das hinausreichen, was wir sehen, hören und riechen können. Nicht der Atheismus an sich, wohl aber der religiöse Analphabetismus ist - wie jede Form der Ignoranz - problematisch, weil er zu einer grundlegenden ästhetischen wie auch moralischen Verarmung der Gesellschaft führt. (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 5.3.2014)

Auszug Friedenspreisrede Navid Kermani in der Frankfurter Paulskirche 19. Oktober 2015

"Dabei ist der Koran ein Text, der sich nicht etwa nur reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen Bildern spricht, er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die Partitur eines Gesangs, der seine arabischen Hörer durch seine Rhythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt. Die islamische Theologie hat die ästhetischen Eigenheiten des Korans nicht nur berücksichtigt, sie hat die Schönheit der Sprache zum Beglaubigungswunder des Islams erklärt. Was aber geschieht, wenn man die sprachliche Struktur eines Textes missachtet, sie nicht einmal mehr angemessen versteht oder auch nur zur Kenntnis nimmt, das lässt sich heute überall in der islamischen Welt beobachten. Der Koran sinkt herab zu einem Vademekum, das man mit der Suchmaschine nach diesem oder jenem Schlagwort abfragt. Die Sprachgewalt des Korans wird zum politischen Dynamit.

Oft ist zu lesen, dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung gehen oder die Moderne sich gegen die Tradition durchsetzen müsse. Aber das ist vielleicht etwas zu einfach gedacht, wenn die Vergangenheit des Islams so viel aufklärerischer war und das traditionelle Schrifttum bisweilen moderner anmutet als der theologische Gegenwartsdiskurs. Goethe und Proust, Lessing und Joyce haben schließlich nicht unter geistiger Umnachtung gelitten, dass sie fasziniert waren von der islamischen Kultur. Sie haben in den Büchern und Monumenten etwas gesehen, was wir, die wir oft genug brutal mit der Gegenwart des Islams konfrontiert sind, nicht mehr so leicht wahrnehmen. Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.

Alle Völker des Orients haben durch den Kolonialismus und durch laizistische Diktaturen eine brutale, von oben verordnete Modernisierung erlebt. Das Kopftuch, um es an einem Beispiel zu illustrieren, das Kopftuch haben die iranischen Frauen nicht allmählich abgelegt – Soldaten schwärmten auf Anordnung des Schahs 1936 in den Straßen aus, um es ihnen mit Gewalt vom Kopf zu reißen. Anders als in Europa, wo die Moderne bei allen Rückschlägen und Verbrechen doch als ein Prozess der Emanzipation erlebt werden konnte und sich über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte vollzog, war sie im Nahen Osten wesentlich eine Gewalterfahrung. Die Moderne wurde nicht mit Freiheit, sondern mit Ausbeutung und Despotie assoziiert. Stellen Sie sich einen italienischen Präsidenten vor, der mit dem Auto in den Petersdom fährt, mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den Altar springt und dem Papst seine Peitsche ins Gesicht schlägt – dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was es bedeutete, als Reza Schah 1928 mit seinen Reitstiefeln durch den Heiligen Schrein von Ghom marschierte und auf die Bitte des Imams, wie jeder Gläubige die Schuhe auszuziehen, dem Imam mit der Peitsche ins Gesicht schlug. Und Sie fänden vergleichbare Vorgänge und Schlüsselmomente in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens, die sich nicht langsam von der Vergangenheit lösten, sondern diese Vergangenheit zertrümmerten und aus dem Gedächtnis zu radieren versuchten"

http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/445722/
http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/819312/
"Über die Grenzen - Jacques Mourad und die Liebe in Syrien"

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In einfacher Sprache formuliert, erinnert mich Kermani Verlangen nach einem buchstabengetreuen Religionsverstänndnis mit dem Minimalkonsens an folgendes Wort

"Um der Schönheit relgiöser Sprache Willen In Schönheit untergehen"

Bedarf Kultur, Kunst, Literatur, Musik, Theater, Medien, die aus Religionen erwuchsen, wirllich noch relgiöser Alphabetisierung, Buchstabentreue, wie sie Navid Kermani nahelegt, um ihre Wirkung auf Menschen zu entfalten?


In höchster Gefahr naht auch schon die Rettung mit dem Religionsverständnis des Theologen, Philosophen Paul Tillich:

"Ich fühle mich zwischen den Welten. Und ich bejahe diese Stellung, weil sie mit dem christlichen Grundgedanken, dass wir Pilger auf Erden sind, sehr viel Ähnlichkeit hat."


Paul Tillich verstarb heute vor fünfzig Jahren am 22.Oktober.1965 im Alter von 79 Jahren in Chicago/USA.


Paul Tillich gilt vielen, neben Dietrich Bonhoeffer, (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg von "Amtswegen" ermrordet) als ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche, als der bedeutendste protestantische Theologe und Religionsphilosoph des 20. Jahrhunderts:

Paul Tillich wurde als erster nicht-jüdischer Professor der Theologie, Philosophie, Soziologie , durch die Nazis, kaum an der Macht, 1933 ein Berufsverbot mit der Folge erteilt, dass Tillich seine Rettung durch frühe Emigration in die USA suchte.

Dort wurde Paul Tillich an der Chicago Harvard- Elite- Uni zum Professoren berufen. Er selber nannte sich "religiöser Denker" und wollte auch als solcher nicht als Professor oder Philosoph angesprohen sein

Paul Tillich erhielt 1962, wie Kermani 2015, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.

"Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten, ein Zurückkehren, ein Wiederzurückkehren, ein Wiederüberschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes, jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen." (Paul Tillich in seiner Friedenspreis Dankerede 1962 )

Geboren wurde Paul Tilich am 20. August 1886 im Dorf Starzeddel in der damaligen Mark Brandenburg. Der Pfarrerssohn studierte Theologie in Berlin, Tübingen und Halle.

Er war Hilfsprediger neben anderem in Berlin-Moabit. Über seine Erlebnisse als Feldprediger im Ersten Weltkrieg schrieb Paul Tilich in einem Brief, schreibt Anna Gann in ihrem heutigen Beitrag zu Paul Tillichs gedenken im Deutschlandfunk.

"[Es] riss den Abgrund für mich so tief auf, dass er sich nie mehr schließen konnte. Mir wurde klar: Wenn es eine neue Theologie geben kann, dann muss sie dieser Erfahrung des Abgrundes unserer Existenz gerecht werden."

Wer von Gott redet, so Tillichs relgiöser Kompass, muss die Hoffnungen und Zweifel der Gläubigen und der Ungläubigen einbinden, muss die gesellschaftlichen und politischen Fragen im Blick haben.

Sein weites Feld dafür fand er auf der Grenze zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Irdischem und Göttlichem.

Anna Gann zitiert den Berliner Theologe Wilhelm Gräb zu Paul Tillich:

"Womit er für uns auch heute noch Maßstäbe setzt: Er hat Gott in der Kultur entdeckt. Gott ist nicht nur in der Kirche zu Hause, er ist in erster Linie gerade nicht in der Kirche zuhause, sondern in der Kunst, in der Literatur, in der Musik. Natürlich ist das Kunstwerk nicht selber eine religiöse Wirklichkeit. Aber es bringt mich in Kontakt mit der transzendenten Wirklichkeit."

Paul Tillichs Religionsverständnis, blieb, trotz und wg. seiner Profession, lebenslang die eines Laien, villeicht eines Philosophen, eher eines Suchenden und Fragenden im öffentlichen Raum, wie einst Sokrates, der dialogisch durch die Straßen, über die Märkte Athens zog, nachzulesen in Tllichs autobiografischer Schrift

"Auf der Grenze".

"Es erschien mir unmöglich, als Prediger und Theologe etwas anderes darzustellen als einen Laien und Philosophen, der etwas von den Grenzen menschlicher Existenz zu sagen wagt."

Das galt für ihn, gleich ob er ab 1924 Professor an den Universitäten in Marburg, Dresden, Leipzig, in Frankfurt am Main, seit 1928 Philosophie und Soziologie lehrte.

Seit den 1920er-Jahren rechnete er sich dem Kreis der "Religiösen Sozialisten" zu, die für soziale Gerechtigkeit engagiert, auch die kirchlich institutionalisierte Fürsorge generell und besonders in Deutschland kritisch unter die Lupte nahmen . Anna Gann ziireert Tillich:

"Es ist ein höheres Ziel, die Voraussetzungen des Almosengebens aufzuheben, als die Armut durch Almosen zu lindern."

1929 wurde Paul Tillich Parteimitglied der SPD ein. In seiner Schrift "Die sozialistische Entscheidung" griff er besonders den Nationalsozialismus an. Sein Buch stand 1933 auf der Liste der Nazis, NS- Burschenschaften für Bücherverbrennungen.

Paul Tillich blieb Zeit seines Lebens ein Suchender und Fragender. Die Vorstellung, das religionsverständnis, das Christentum für die einzig wahre Religion zu halten, lag Paul Tillich fern, . Bis in seine letzten Lebensjahre suchte er den das gespräch mit Vertretern anderer Religionen.

"Ich war in Japan, wo ich zehn Wochen mit Buddhisten debattiert habe. Man muss verstehen, dass in jeder aktuellen Religion Elemente von dem enthalten sind, was auch in jeder anderen aktuellen Religion vorkommt. Wenn man darum mit einem Buddhisten spricht, dann spricht man immer zugleich mit sich selbst."

In den USA ist Paul Tillich nicht nur als Professor weit bekannter als in Deutschland, Europa, sondern auch als Moderator einer legendären Talkshow 1961 während der US- Präsidentschaft John F. Kennedys, ausgstrahlt vom US- Außenministerium zum Thema

"Flexible response strategie by atomic weapons or not?"

während gleichzeitig unmerklich Vorbereitungen einer US- Invasion Kubas in der Schweinebucht, die Ausweitung des Vietnamkrieges in Südostasien anliefen.

JP


http://www.deutschlandfunk.de/das-religionsverstaendnis-von-paul-tillich.886.de.html?dram:article_id=239563
Das Religionsverständnis von Paul Tillich04.03.2013
Das Religionsverständnis von Paul Tillich

http://www.deutschlandfunk.de/vor-50-jahren-verstorben-paul-tillich-ich-fuehle-mich.871.de.html?dram:article_id=334602
Paul Tillich: "Ich fühle mich zwischen den Welten"22.10.2015
Vor 50 Jahren verstorben
Paul Tillich: "Ich fühle mich zwischen den Welten"
Von Anna Gann

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43367735.html
29.11.1961
ERST RÜCKZUG - DANN BEFREIUNGSKRIEG?

Die Verteidigung Europas / Eine Fernseh-Diskussion im US-Außenministerium

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45549405.html
30.01.1967
Walter Künneth über Heinz Zahrnt: Die Sache mit Gott
UND WOVON LEBT DIE GEMEINDE?

Von Künneth, Walter

https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/botho-strauss-hunnengedanken-von-der-kette

JOACHIM PETRICK 09.10.2015 | 22:42 3
Botho Strauß "Hunnengejammer von der Kette"

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Geschrieben von

Joachim Petrick

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Joachim Petrick

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