„Got up, went to Twickenham, rehearsed until lunchtime, left The Beatles.“, schreibt er irgendwann in sein Tagebuch. Es ist nur ein kleiner Moment in diesem recht langen Film, allerdings einer, der einen unversehens ganz nahe heranrückt an diesen George Harrison, einer der Momente, die man im Gedächtnis behält. Living In The Material World heißt die Dokumentation, die Martin Scorsese aus sehr viel Archivmaterial und den üblichen Gesprächen mit Gefährten und Zeitgenossen strikt chronologisch zusammengebaut hat. Es ist ganz bestimmt nicht sein bester Film, schon gar nicht sein bester Musikfilm, wovon er einige äußerst beeindruckende gemacht hat: The Last Waltz als elegischen Abgesang auf The Band und eine ganze Ära, die akribische
96;ra, die akribische Blues-Historienforschung Feel Like Going Home oder die immer noch verblüffend aufschlussreiche Bob Dylan-Betrachtung No Direction Home. Allerdings hatten all die eben keinen George Harrison.Es wirkt immer noch als Klugscheißer-Gehabe, auf die Musikgewissensfrage „Lennon oder McCartney?“ mit „Harrison“ zu antworten. Von den Beatles war er der unauffälligste und gerade mal ein paar Handvoll Songs schafften es auf deren Alben. Doch sie gehören in ihrer Mehrzahl zu den schönsten, die es von den Beatles gibt. Und er war es, der erstmals einen Außenstehenden in den geschlossenen Beatles-Kreis holte, als er seinen Freund Eric Clapton darum bat, für While My Guitar Gently Weeps eines der unsterblichen Gitarrenthemen der Rockgeschichte aufzunehmen. Dass Clapton wiederum nicht nur Freund, sondern auch Rivale um seine Frau Pattie Boyd war, dokumentierte der ganz öffentlich auf seinem klassischen Liebeskummer-Heuler Layla.Universelle Die-Welt-ist-nicht-schlecht-BotschaftEntfesselnder noch als für die anderen Beatles war die Trennung für Harrison, dessen zweites Leben mit dem Befreiungsschlag All Things Must Pass begann, einem Dreifachalbum, das den erfolgreichsten Post-Beatles-Start markierte. Mit My Sweet Lord enthielt es nicht nur einen der inzwischen bekanntesten Songs der Welt, sondern auch – und das spart Scorsese lieber aus – einen der spektakulärsten Fälle von Plagiatsstreitigkeiten der Popmusik, der nach einem bizarren juristischen Kleinkrieg damit endete, dass Harrison die Rechte des 1963er-Songs der Chiffons erhielt, den er nach gerichtlicher Meinung abgekupfert hatte. Über alle Maßen bemerkenswert ist My Sweet Lord aber eigentlich, weil Harrison damit aus einem simplen „Hare Rama“-Mantra und unverhohlener Krishna-Verehrung so etwas wie eine universelle Die-Welt-ist-nicht-schlecht-Botschaft machte, die man sogar als beinharter Atheist akzeptieren konnte.Für Harrison waren die spirituelle Selbsterforschung, das immer tiefere Eintauchen in Meditationstechniken und der Austausch mit indischen Selbstfindungs-Gurus nie nur eine Zeitgeistmode. Umso bemerkenswerter, dass ausgerechnet ihm die Existenz einer Filmsatire, die damals gern als „blasphemischer Schund“ bezeichnetwurde, überhaupt erst zu verdanken ist. Für die Finanzierung von Monty Pythons Das Leben des Brian setzte er sein Vermögen ein – er wollte den Film sehen. Unversehens entstand so HandMadeFilms, eine Produktionsfirma, die einige stilbildende Filme des Englands der achtziger Jahre in die Kinos brachte.Intimkenntnis der indischen MusikGeld für Andere aufzubringen, war keine neue Erfahrung für Harrison. Über die katastrophale Lage für Flüchtlinge des Bürgerkrieges in Bangladesh entsetzt, organisierte er das erste große Benefiz-Konzert der Rockgeschichte. Concert For Bangladesh lieferte mit seiner konsequenten Vermarktung über das eigentliche Konzertevent hinaus nicht nur die Blaupause für spätere Band-Aid-Großaktionen, sondern gleich noch die Formel für alle Tribut-Konzerte der Welt, inklusive seines eigenen: Möglichst viele Stars spielen auf einer Bühne. (Daran, dass nicht auch John Lennon dabei war, ist natürlich Yoko Ono schuld, die selbst ausdrücklich nicht eingeladen war und Lennon schließlich zurückpfiff.) Dass das Publikum mit Harrisons Intimkenntnis der indischen Musik nicht ganz mithalten konnte, beweist eine Randanekdote des Festivals: Sitar-Superstar Ravi Shankar bedankte sich beim Publikum für den aufbrandenden Applaus – und äußerte freundlich lächelnd die Hoffnung, es würden nicht nur das Stimmen der Instrumente sondern auch die Musik gefallen. Harrison selbst hatte da selbst schon lange wieder aufgehört, Sitar zu spielen; aus Respekt vor den wahren Künstlern, deren Niveau er nie erreichen würde.An seine großen Erfolge der Siebziger reichte er später nie mehr heran, spielte noch einige Alben ein, pflegte ein entspanntes Verhältnis zu seinen ehemaligen Band-Kollegen und lieferte mit dem Altstar-Projekt Travelling Wilburys wundervoll entspannte Fingerübungen ab. 2001 starb er nach einiger Leidenszeit an Krebs. Seine zweite Frau Olivia – die Interview-Sequenzen mit ihr treiben auch sonst hartgesottenen Zynikern Rührungstränen in die Augen – berichtet von der buchstäblichen Erleuchtung des Raumes, als George Harrison die „material world“ verlässt. Man möchte es fast glauben.