Es ist so ziemlich das unpraktischste Medium, das man heutzutage verwenden kann, um Musik darauf zu speichern. Ein, zwei Songs passen auf eine Seite, danach muss man sie umdrehen, um die „B-Seite“ zu hören. Hartnäckig hält sich diese Bezeichnung für den Song, der jahrzehntelang gebraucht wurde, um dem potenziellen Hit auf der A-Seite das umseitige Füllmaterial mitzugeben. „B“ wie „Bonus“, so verstehen das allerdings wohl inzwischen die meisten derjenigen, die noch nicht so lange im geschäftsfähigen Alter sind und ihre Musik vorwiegend als Datei – wenn überhaupt – erwerben. Und mal ehrlich: Es gibt eigentlich keinen vernünftigen Grund, warum es die Vinylsingle überhaupt noch gibt, die obendrein
ein auch noch gern mit extragroßem Loch in der Mitte daherkommt, für das man beim Plattenspieler einen Adapter, einen Puck, benötigt. Um die fünf Euro kostet so ein Ding, wenn es halbwegs taugen soll. Fast soviel, wie eine Single selbst. Aber um Vernunft ging es bei Musik natürlich noch nie. 137 Neuveröffentlichungen von solchen „7-Inches“ werden an diesem Samstag allein in Deutschland erwartet, neben gut 250 weiteren „10-“ und „12-Inches“. (12 Zoll ist das Maß einer normalen Langspielplatte.) Wer eine davon haben will, muss sich in einen Plattenladen begeben. Der 20. April ist Record Store Day. Gefeiert wird jene Institution, die in Zeiten vor Internet und „Gefällt auch“-Algorithmen praktisch allein für die geschmackliche Bildung angehender und die Weiterbildung ausgewachsener Popmusik-Liebhaber zuständig war. Seit einigen Jahren gibt es dieses – man muss das nicht negativ sehen – Marketing-Event schon, es ist ein Erfolgsmodell mit ständigen wachsenden Teilnehmerzahlen und inzwischen schier unüberschaubaren Sonder-Releases von Labels jedweder Größe. Es gilt auch bei sehr großen Bands und Majorlabels als chic, dabei zu sein.Neben dem Trend liegt man damit sowieso nicht. Vinyl hat sich als Tonträgermedium auf absehbare Zeit – man muss sagen: wieder – etabliert. In den ganz schlimmen Jahren des Compact Disc-Siegeszuges half dabei noch die eben erwachte DJ-Kultur zum Überleben, deren Bedarf an Vinyl zum Auflegen im Club im Laptop-Zeitalter allerdings auch nach und nach versiegt. Vinylauflagen sind zwar immer noch Pflichtprogramm für jedes anständige Dancefloor-Label, sie gelten aber eher noch als Zwangselement in Sachen Image und als Nachweis der ernsthaften Relevanz, verdienen lässt sich mit den normalerweise üblichen Auflagen im Dancefloor-Kosmos nichts mehr. Etwas anders sieht das jedoch im angestammten Rock- und Pop-Segment abseits des ultrabrutalen Hit-Tagesgeschäfts aus.177 Millionen Dollar wurden 2012 weltweit mit Vinylplatten erlöst, das ist soviel wie zuletzt vor 16 Jahren – damals gab es noch nicht mal konkurrierende Online-Downloads. Das ist nichtsdestotrotz eine an sich eher ernüchternde Zahl, in Deutschland macht Vinyl immer noch weniger als zwei Prozent vom Gesamtumsatz der Musikindustrie aus. Aber sie wird von jener „Zielgruppe“ befüllt, die im Leben nicht mehr aufhören werden, Musik zu kaufen; die bereit ist, für Musik überdurchschnittlich viel Geld auszugeben. Es ist eine stabile Nische, die sogar weiter wächst. Eine Million LPs wurden laut Bundesverband der Musikindustrie 2012 in Deutschland verkauft, gegenüber dem Vorjahr eine schier unglaubliche Steigerung von 36 Prozent. Das ist, was man gemeinhin antizyklisch nennt, denn ansonsten stagnieren die Umsätze der Musikindustrie derzeit, vorher gingen sie jahrelang drastisch zurück. Branchenkenner halten diese Zahl sogar noch für untertrieben.Genau genommen ist es so, dass die Hersteller von Vinylplatten mit den Aufträgen nicht mehr hinterherkommen. Das betrifft eine klitzekleine Manufaktur wie die renommierten Leipziger R.A.N.D.-Muzik, die gerade auf Dreischichtbetrieb umstellen, ebenso wie Optimal, den deutschen Marktführer in Sachen CD- und Vinyl-Produktion. Der hat gerade im Vorfeld des Record Store Day Vorlaufzeiten von vier bis sechs Wochen, um pünktlich auszuliefern. Im letzten Geschäftsjahr wurden so in Mecklenburg, dem Sitz des Presswerks, 6,3 Millionen Vinyl-Tonträger produziert – eine Steigerung von 50 Prozent innerhalb eines Jahres. Gerade erweitert man die Kapazitäten. Nur, dass man nirgendwo auf der Welt einen neuen Maschinenpark zum Pressen von Platten bestellen kann. Der Vinyl-Weltmarkt basiert auf zum Teil uralten Maschinen, die von Interessierten buchstäblich weltweit gescoutet werden. Optimal wurde zum Beispiel in St. Petersburg fündig. Bis jetzt hat sich noch niemand an eine diesbezügliche Produktion oder gar Neuentwicklung gewagt. Wichtige Ersatzteile gibt es logischerweise auch kaum, die werden in der Regel von Werkzeugmachern in mehr oder weniger Handarbeit hergestellt.Inzwischen ist es wieder Usus, dass angestammte Musiker auch abseits der bisher üblichen Independent-Szene ihre Alben auch auf Vinyl verfügbar machen. Dem eigentlichen Record Store hilft das allerdings nicht unbedingt wirklich. Die Gesamtlage für den Kleinhändler vor Ort ist immer noch ist alles andere als rosig. Einen Plattenladen zu betreiben, ist – zumindest außerhalb des britischen Popmusik-Kernlands oder in Städten unter Metropolengröße – ein Geschäft, das kaum noch den Inhaber zu ernähren zu vermag, geschweige denn jene sachkundigen Angestellten, die den Humus jenes Mythos der Plattenladen-Sozialisation bilden, der in Nick Hornbys „High Fidelity“ verdenkmalt wurde. Es schließen immer noch mehr Läden als neu eröffnet werden. Auch hier ist die Konkurrenz der Online-Händler übermächtig, auch weil es inzwischen neben dem Platzhirsch Amazon auch sehr gute Spezialisten gibt, die den Vorteil des Online-Handels mit Fachkompetenz und umfassendem Angebot an Imports ergänzen. Das Wühlen in Plattenkisten ersetzt das indes ebenso wenig, wie die Fachsimpelei am Ladentresen. Um darauf aufmerksam zu machen, gibt es den Record Store Day. Korrektur: Optimal produziert in Röbel/Müritz. Das liegt natürlich nicht in Brandenburg, wie ursprüglich vermerkt, sondern in Mecklenburg.