Sie nennen es "freiwillige Räumung"

Flüchtlinge Die Situation der Flüchtlinge in der besetzten Schule in Berlin-Kreuzberg ist nur der Anfang eines Protests gegen die globalen Exklusionen

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Polizisten vor der abgeriegelten Gerhard-Hauptmann-Schule in Kreuzberg
Polizisten vor der abgeriegelten Gerhard-Hauptmann-Schule in Kreuzberg

Foto: Sean Gallup/ AFP/ Getty Images

Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! / Der dort ruhig über die Straße geht / Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde / Die in Not sind?

Diese Zeilen aus Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen zeigen sich dieser Tage in ihrer schweren Eindrücklichkeit in der Ohlauer Straße in Berlin-Kreuzberg:

Weitläufig ist das Gebiet um die Straße abgesperrt. Polizeiautos – deren Interieur auch während ihrer Einsätze nicht auf nationales Fußballlametta in Form eines Deutschlandschals verzichten kann – so weit das Auge reicht. Ein Großeinsatz. 900 Polizisten sind vor Ort. Es scheint: hier besteht große Gefahr, denn wieso sonst sollte ein derart großes Polizeiaufgebot nötig sein? Etwas Schlimmes muss vorgefallen sein.

Es handelt sich, wie der Bezirk verlauten lässt, um eine freiwillige Räumung. Sicherlich: für ein derartiges Vorhaben sind 900 Polizisten nötig. Hinter den Absperrgittern stehen die, die in den Medien als krawallorientierte, linke Radikale bezeichnet werden. Sie rufen: „Kein Mensch ist illegal“, „No border, no nation, no deportation.“, „Oh laalaa, oh leelee, solidarité avec les sans-papiers“ und „We are here, and we will fight – Freedom of movement is everybody´s right.“ Die 900 Beamten sind in ihrer Ninja-Turtle Montur gut gerüstet gegen derartige Radikale, die da unverschämt und unbewaffnet auf missachtete Rechte aufmerksam machen wollen – auf missachtete Rechte derer, die seit eineinhalb Jahren unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Schule in der Ohlauer Straße leben. Sie kommen aus Ruanda, Mali, Sudan – aus Ländern, die, die meisten Menschen hierzulande nicht einmal geographisch verorten können. Sie fliehen vor Krieg, Gewalt, Hunger, Armut, Ausbeutung, Diskriminierung, politischer Verfolgung. Und was erwartet sie hier? Eben dieses.

Die noch ca. 40 verbliebenen Flüchtlinge, die seit drei Tagen auf dem Dach der Schule ausharren um für ihre Forderungen – Abschaffung der Lager, Abschaffung der Residenzpflicht und Asyl für alle Protestierenden – zu kämpfen, winken ihren Unterstützern, die sich rund um die Straße versammeln, zu. Letztere wirken im Vergleich zu den Hunderten von teilnahmslosen herumstehenden Polizisten wenig krawallorientiert. Ihre Gesichter sind gezeichnet von Empörung, Wut, Mitgefühl und Solidarität. Und sie sind es, die dort nicht ruhig über die Straße gehen, denn sie sind es, die noch erreichbar sind, erreichbar für ihre Freunde auf dem Dach, die in Not sind.

Was derzeit in der besetzten Kreuzberger Schule passiert, ist nur ein Ausschnitt dessen, was sich seit Jahren zu einem immer größer werdenden globalen Problem aufbläst: Der Westen schließt die Türen vor denen, die die Quelle ihres Reichtum bilden. Und diese Quelle markiert den Grund, weshalb sie unsichtbar bleiben müssen, weshalb Mauern errichtet werden müssen, weshalb sie, die es einmal über diese geschafft haben, wieder abgeschoben werden müssen: denn der Flüchtling ist ein wandelndes Mahnmal. Seine Präsenz klagt: Du bist Schuld!

Und da steht er, der Flüchtling und schreit und fragt: „Where do you find gold? In my country! I am from Ruanda!“ Er steht da für Millionen von Flüchtlingen auf der Welt, die an die Tore der USA und Europas klopfen.

Wer glaubt diese Missstände werden beseitigt indem sie in die Unsichtbarkeit verschoben werden, der irrt. Sofern sich das Weltgefüge nicht ändert, werden sie immer wieder kommen. Sie werden kommen in Scharen, bis die Bastion Europa sich endlich eingestehen muss, dass diese Politik der Grenzziehung und der Exklusion ein Verbrechen an der Menschheit ist. Und wer jetzt noch immer nicht erreichbar ist für den, der in Not ist, der kann nur hoffen, dass unsere Nachgeborenen, die uns fragen: Wieso habt ihr nicht geholfen? Wieso habt ihr nichts getan?, nachsichtig mit uns sein werden. Und so schloss auch Brecht sein Gedicht mit den Worten:

Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.

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