Verfolgte Unschuld

FDP Er kann einen Raum auch ausfüllen. Der Andrang ist groß, als Rainer Brüderle sich erstmals zum Sexismus-Skandal äußert. Fehler will er keine gemacht haben

Über ein Jahr hatte Brüderle geschwiegen, nachdem Stern-Journalistin Laura Himmelreich im vergangenen Januar in einem Porträt beschrieben hatte, wie der FDP-Politiker ihren Busen bewertet hatte. Kurz darauf schilderten tausende Frauen auf Twitter unter dem Hashtag #Aufschrei ihre Erfahrungen mit alltäglichem Sexismus. Brüderle wurde zum Symbol für den aus der Zeit gefallenen Mann, der die Umgangsformen des 21. Jahrhunderts nicht verinnerlicht hatte. „Kein Kommentar“, war das einzige, was ihm zu dem geschilderten Vorfall über die Lippen kam. Im Buch äußert er sich jetzt ausführlich.

Entsprechend groß war das Interesse, als Brüderle mit seinem Gesprächsband „Jetzt rede ich!“ nun seine Sicht der Dinge der Öffentlichkeit präsentierte. Bis auf den letzten Platz war das Tagungszentrum der Bundespressekonferenz besetzt, als der ehemalige FDP-Fraktionschef auf dem Podium Platz nahm, flankiert von seinem Co-Autor Hugo Müller-Vogg und Linke-Fraktionschef Gregor Gysi, der das Buch vorstellen sollte. Mehrere Kameras filmten das Geschehen, ein Nachrichtensender übertrug live. In der ersten Reihe saß zudem - quasi als Ehrengast - Unions-Fraktionschef Volker Kauder, der ausgerechnet diesen Anlass wählte, um Solidarität mit seinem ehemaligen Koalitionspartner zu demonstrieren.

Wer von Brüderle nun Einsicht oder gar ein schlechtes Gewissen erwartet hatte, der wurde enttäuscht. „Ich fühle mich nicht als Opfer, aber unfair behandelt“, fasste Brüderle seine Sicht auf die Sexismus-Affäre zusammen. Auf Gysis Einwand, dass der Stern-Artikel immerhin eine berechtigte Debatte ausgelöst habe, ging Brüderle überhaupt nicht ein. Im Buch verhält es sich ähnlich. Unter der schrägen Überschrift „Von hinten erschossen: Sexismus-Skandal ohne Sexismus?“ bestätigen Brüderle und Müller-Vogg sich seitenlang gegenseitig, wie übel dem FDP-Politiker mitgespielt wurde. Die im Stern-Porträt beschriebenen Anzüglichkeiten und Annäherungen streitet Brüderle dabei nicht einmal ab. Er kann daran nur offensichtlich bis heute nichts falsches finden. „Mir fehlte und fehlt jedes Bewusstsein, mich daneben benommen zu haben“, heißt es im Buch.

Dokument des Selbstmitleids

Brüderle gefällt sich überhaupt in der Rolle der verfolgten Unschuld. Nicht nur der Stern, die Medien insgesamt hätten es auf die FDP abgesehen gehabt. Ungerecht, dass man ihn am Wahlabend aus der Elefantenrunde ausgeladen habe, als sich abzeichnete, dass die Partei aus dem Bundestag fliegen würde. Unfair, wie nach der Wahlniederlage über die Liberalen gespottet wurde. Gesprächspartner Müller-Vogg gibt außerdem nur den Stichwortgeber. Kritische Nachfragen verkneift er sich. So entstand ein in jeder Hinsicht dünnes Dokument des Selbstmitleids, auch wenn er hier und da kleine Fehler einräumt – etwa was den FDP-Wahlkampf angeht.

Gregor Gysi fiel es dann auch sichtlich schwer, das Buch zu loben: „Er ist ein bisschen wütend, das macht die Sache nicht schlecht“, schloss er seine Präsentation. Damit hat er sicher recht. Brüderle hat ein frustrierendes Jahr hinter sich – nicht nur wegen des Stern-Artikels. Im Wahlkampf stürzte er schwer, seine Partei flog aus dem Parlament. Jetzt nutzte er die Chance, sich den Frust von der Seele zu reden. Die neue FDP-Spitze, so versichert er, sei über seinen Beitrag erfreut. Tatsächlich hat sich Christian Lindner entsprechend zu Wort gemeldet. Andere Liberale hoffen hingegen, dass das Kapitel Brüderle endlich abgeschlossen wird.

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Geschrieben von

Julian Heißler

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