Flüchtlingsprotest reloaded

Asylpolitik Das Oraniencamp in Berlin-Kreuzberg wurde geräumt. Das bedeutet aber nicht das Ende der Protestbewegung. Im Gegenteil, die Flüchtlinge haben einen Fuß in der Tür

Es muss ein furchterregendes Gefühl sein, wenn ein Bagger dein Zuhause vor deinen eigenen Augen zu Schrott fährt. Kein Wunder also, dass gestern bei der Räumung des Oraniencamps in Kreuzberg die Gemüter hochkochten. Seit eineinhalb Jahren hatten hier Flüchtlinge geschlafen, gegessen, gefroren und geschwitzt, während sie ihren Protest gegen das deutsche und europäische Asylsystem organisierten. Wo zuvor eine Miniaturstadt aus Zelten und Bretterbuden stand, klaffen nun zwei kahle Erdflächen und verlassene Schutthaufen, umringt von einem hohen Metallzaun und jeder Menge Polizeiwagen. Das symbolische Zentrum des deutschlandweiten Asylprotest liegt brach.

Ob die Räumung nun einen Fort- oder Rückschritt bedeutet, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten innerhalb der Flüchtlingsbewegung. Mitte Februar hatte die Berliner SPD-Senatorin Dilek Kolat den Bewohnern des Oraniencamps einen Kompromiss angeboten: Wenn das Camp geräumt werde, bekämen allen Flüchtlingen eine befristete Duldung, ein "umfassendes" Asylverfahren und einzelne Beratung durch "Support-Teams". Zudem stellte sie eine alternative Unterkunft in Aussicht.

Doch die Menschen am Oranienplatz haben, je nach Nationalität und rechtlichem Status, unterschiedliche Chancen und Ziele, ihr weiteres Leben in Deutschland zu gestalten. Die Spaltung der Gruppe war programmiert und vermutlich vom Senat auch kalkuliert eingesetzt. Drei von acht Wortführern unterzeichneten Mitte März den Kompromiss, andere kämpften gegen ihn. Verständlicherweise, denn die Ziele der Bewegung – Abschiebestopp, Arbeitserlaubnis sowie Abschaffung der Residenzpflicht und der Asylheime – sind für jeden Einzelnen nur eine mehr oder weniger wahrscheinliche und vor allem temporäre Möglichkeit. Grundsätzliche politische Lösungen gab es bislang nicht.

Andererseits ist es nach Monaten auf dem Platz, die immer wieder von Konflikten, Räumungsdrohungen und langen Verhandlungen mit Bezirk und Land bestimmt waren, verständlich, dass viele Flüchtlinge das Angebot nach einer neuen Perpektive oder einem warmen Zimmer dankbar annahmen. In den letzten Wochen hatten immer mehr der Verhandlungsführer das Papier unterzeichnet, heute morgen zog ein Teil der Bewohner in ein altes Hostel nach Berlin-Friedrichshain um. Für alle reichte der Platz von vorneherein nicht.

Dass das Camp keine Dauerlösung sein konnte, hatten der CDU-SPD-Senat und zuletzt auch die Grünen-Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann immer wieder betont. Die Unterstützer-Szene der Flüchtlinge hingegen war mehrheitlich gegen das Abkommen. Sie mobilisierte am Dienstag Abend zu einer Solidaritätsdemo in Kreuzberg, noch heute harrten zwei Unterstützer in einem Baum auf dem Gelände am Oranienplatz aus. Der Flüchtlingsrat e.V. Berlin fordert in einer Presseerklärung eine "echte Einigung".

Dass es zu einer einvernehmlichen Lösung zwischen Politik und der gesamten Asylprotest-Szene vielleicht nie gekommen wäre, hat der Senat wohl geahnt – und nutze die Gunst der Stunde, aus einer Fast-Einigung eine Ganz-Eingung zu machen und mit der Räumung Fakten zu schaffen.

Auch wenn das für das Oranienkamp einen Kahlschlag bedeutet hat: Die Gespräche mit dem Senat haben der Flüchtlingsbewegung eine Tür geöffnet. Sie haben gezeigt, dass auf Landesebene sehr wohl Spielräume existieren, die Einzelschicksale von Flüchtlingen zu berücksichtigen. Im Zuge der Proteste hat die Linken-Politikerin Halina Wawzyniak ein Gutachten des wissenschaftliches Dienstes des Bundestages in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Die Landesbehörden sind, handelt es sich um humanitäre Fälle oder die “Wahrung des politischen Interesses”, berechtigt, auch Gruppen einen Aufenthaltsstatus zu erteilen.

Das könnte schon bald zu einem wichtigen politischen Argument für die Flüchtlingsbewegung werden. Etwa, wenn es um die Zukunft der von Flüchtlingen besetzten Gerhard-Hauptmann-Schule in Kreuzberg gehen wird. Auch hier ist die freiwillige Räumung ein Teil der Vereinbarung zwischen Flüchtlingen und Senat. Und auch hier ist Skepsis nicht verkehrt. Wer garantiert, dass Dilek Kolat ihre Versprechen auch einhält? Und was passiert, wenn nach Prüfung der asylrechtlichen Lage ein Großteil der Flüchtlinge ganz legal abgeschoben wird? Für sie steht viel auf dem Spiel. Es geht um ihr Zuhause.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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