Ein bisschen skeptisch kann man schon sein, wenn Lewis Carolls Kinderbuchklassiker „Alice im Wunderland“ als Stoff für eine Theateraufführung in einem Kaufhaus herhalten soll, genauer im Forum Steglitz, einem Shoppingcenter im Südwesten Berlins. H&M und Weltliteratur, kann das zusammengehen? Die berlinbasierte Theaterkompanie MS Schrittmacher (künstlerische Leitung: Martin Stiefermann) hat sich der Frage mit seiner Inszenierung, die bereits im vergangenen Jahr in ähnlicher Form in einem Neuköllner Karstadt zu sehen war, angenommen. Ihn interessiere, sagt Regisseur Stiefermann, wie man die Geschichte „ins Hier und Heute“ holen und einen aktuellen gesellschaftlichen Kontext herstellen könne. Es ist das Arbeitskonzept der Truppe.
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tskonzept der Truppe.Das Hier und Heute ist in diesem Fall ein später Mittwochnachmittag. Menschen mit Einkaufstüten und Kinderwagen schieben sich an den rund dreißig Wartenden vor dem Centereingang vorbei, schielen neugierig auf die „Zuschauer“-Schilder, welche uns um den Hals baumeln. Am Himmel sammeln sich Regenwolken, es ist eng vor den großen Glastüren. Und dann kommt Alice. Sie ist eine blonde, energische Mittvierzigerin mit leichtem Berliner Zungenschlag und kleinen Falten um die Augen, arbeitslos mit Bleistiftrock, kurz vor einem Bewerbungsgespräch (Antje Rose). Sie telefoniert aufgebracht, es geht schließlich um einen Job, schnell sammelt sich eine Menschentraube um sie. Caroll´s Story nimmt ihren Lauf, ein Mann im Plüschhasenganzkörperkostüm, prädestiniert um jeden Maskottchenwettbewerb zu gewinnen, huscht um die Ecke. Ab jetzt werden die Zuschauer, gelotst von einem Guide der Truppe, den Darstellern folgen. Durch dunkle Gänge, in den Keller des Centers, die Rolltreppen hinauf und hinunter, in das nächste Sportbekleidungsgeschäft. Eigentlich auf der Suche nach einer einfachen Strumpfhose für das Vorstellungsgespräch gerät Alice in einen Konsumrausch. Die Mall wird zur Spielfläche, die Einkäufer zu ungefragten Statisten.Dadurch ergeben sich kuriose Situation. Etwa wenn Alice mit der Zuschauertruppe im Anhang den Lidl im Kellergeschoss marschiert, wo sich Menschen mit ihren Einkäufen im Arm an der Supermarktkasse verwundert umdrehen, wenn sie mit Schuhschachteln im Arm einen spektakulären Sturz hinlegt und von einer erschrockenen Mutter gefragt wird, ob sie sich verletzt habe oder wenn sie sich von einer Gruppe junger Männer beim T-Shirtkauf beraten lässt. Umgekehrt bleiben auch die Zuschauer nicht in ihrer Rolle, „Oh Nanu-Nana, da möchte ich auch mal hin!“, ruft ein Junge seiner Mutter zu. Sie muss lachen. Die Verführung des Konsums als Motor funktioniert in der Center-Odyssee, weil sie jeder aus eigener Erfahrung kennt. Für das Forum Steglitz ist das eine Möglichkeit für Marketing, gibt Center Manager Carsten Paul offen zu.Etwas größer, bitteEbenso lassen sich Originaltext und Figuren erstaunlich gut auf die Kaufhaus-Situation übertragen. Während der Szene in einem Kleidungsgeschäft trifft Alice auf die Raupe, "Wie groß möchtest du gern sein?" fragte sie. "Oh, es kommt nicht so genau darauf an," erwiederte Alice schnell; "nur das viele Wechseln ist nicht angenehm, nicht wahr?" "Nein, es ist nicht wahr!" sagte die Raupe. Alice antworte nichts; es war ihr im Leben nicht so viel widersprochen worden, und sie fühlte, daß sie wieder anfing, empfindlich zu werden. "Bist du jetzt zufrieden?" sagte die Raupe. "Etwas größer, Frau Raupe, wäre ich gern, wenn ich bitten darf," sagte Alice. Der Originaltext wird, in stellenweise kaum veränderter Form (Text: Hartmut Schrewe), zwischen den T-Shirtständern und der halbnackten Alice vor einem Spiegel im Laden zu einem kritischen Kommentar über normative Kleidergrößen der Modeindustrie und der Suche nach immer neuen Formen der Selbstinszenierung durch Konsum. „Genau so was wollte ich, das steht mir super“, jauchzt Alice vor dem Spiegel.Das Stück, welches mit seinem schnellen Szenenwechsel und der ständigen Bewegung, die es seinen Zuschauern abverlangt vor allem turbulent und unterhaltsam ist, schafft so einen kritischen Seitenblick auf die Mechanismen der Konsumgesellschaft. Die Herzkönigin wird zur Disrictmanagerin Frau König, welche statt „Der Kopf muss ab“ ihre Untergebenen mit „Du bist gefeuert“ betraft und Hausverbote erteilt. Und die Herzogin „Frau Duchess“ (Effi Rabsilber) fährt ihre Angestellte in einem Make-Up Laden an: „Willst du, dass die costumer fear kriegen? Rot ist für den Corporate Style No-Go.“ Einer Einkäuferin faucht sie zu: „Dein Karma ist Koma“. Selbstoptimierungsdruck auf allen Seiten. Dass es daneben auch immer wieder recht plakativ zugeht, nimmt man in der Vielfalt aus Figuren, Sound- und Videoinstallationen und der genuin überbordenden Hintergrundkulisse fast dankbar in Kauf, um nicht die Orientierung zu verlieren.