NSA, Tempora und die Überwachung im Alltag

Erklärungsversuch Die Frage danach, warum wir uns nicht entrüsten, können wir am besten mit Beobachtungen aus unserem persönlichen Alltag beantworten.

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Wie ein Mensch sich verhält, ergibt sich aus dem, was er gelernt hat, intellektuell und emotional. Zumindest die vorläufigen Schlüsse, zu denen ein Teil der Hirnforschung gekommen ist, legt nahe, dass es mit der sachorientierten Willensbildung und "freien" Entscheidung nicht weit her sei. Und auch wenn die Anhänger dieser "Hirnschule" möglicherweise zu weitreichende Schlüsse aus ihren Beobachtungen ziehen, bleibt auch ihren Kritikern offenbar nicht viel mehr als die Annahme, der Mensch werde aus seiner individuellen Erfahrung heraus aktiv - er beginnt nicht bei jeder kleinen oder auch großen Entscheidung seines Lebens bei Null.

Wo bleibt die Entrüstung über die Internetspionage der Geheimdienste, fragt Philip Grassmann vom "Freitag" - und bezeichnet die Privatsphäre als den Rückzugsraum, ohne den freie Meinungsbildung nicht möglich sei. Fragen danach, wie weit Sicherheit auf Kosten der Freiheit (oder Freiheit auf Kosten der Sicherheit) zu haben sei, interessiere offensichtlich immer weniger Menschen.

Die Annahme, dass viele Zeitgenossen sich eine Abrutschkupplung zugelegt haben, liegt nahe. Als der damalige CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann 1987 auf Teufel-komm-raus eine Volkszählung durchführen wollte und sich in der Durchsetzungsphase einer teilweise höchst renitenten Öffentlichkeit gegenüber zunehmend lächerlich machte, war das anders. Vielleicht wären Zimmermann einige vorstellbare Dienstleistungen des britischen GCHQ von heute nicht ungelegen gekommen, denn wer Flugblätter zur Zählungsabotage bei sich führte, der galt Zimmermann offenbar als Staatsfeind.

Die Art, in der sich mancher "Saboteur" der 1980er Jahre weniger als zwanzig Jahre später auf der Seite der Staatsautorität wiederfand, wirft vielleicht die Frage auf, ob sich ein Mensch nicht eben doch in seinen Überzeugungen und Erfahrungen - auch im reifen Erwachsenenalter - noch sehr gründlich ändern kann. Joschka Fischer oder Otto Schily mögen dafür Beispiele sein. Allerdings lassen sich andere Motive ebenso wenig ausschließen - lohnte sich im Interesse der eigenen Laufbahn oder der Selbstgratifikation in den 1980ern vielleicht noch lebhafte Opposition, bot der höhere Staatsdienst in dieser Hinsicht vielleicht in den späten 1990ern mehr davon.

Tatsache ist aber auch: was Thema ist, was Menschen bewegt und Meinungen beeinflusst, hat sicherlich viel mit dem zu tun, was überhaupt thematisiert wird.

Über das, was sich gegen tatsächliche oder als solche empfundene staatliche Übergriffe tun lässt, wird aber nach meinem Eindruck heute in der etablierten Presse weniger geschrieben als damals, als es neben den Mainstream-Medien wirklich nur marginale, für den Normalverbraucher kaum erreichbare (oder erschwingliche) Alternativen gab. Die alternativen Quellen, die es heute online durchaus gibt, stoßen wiederum nur begrenzt auf Interesse.

Ich vermute - und belegen kann ich das wirklich nicht -, dass Angst das hauptsächliche Motiv für die unpolitischere Haltung von heute ist. Es ist diese Angst, die Eltern dazu veranlasst, auf den "Umgang" zu achten, die ihre Kinder pflegen. Längst nicht jedes andere Kind einer Nachbarschaft wird als zulässige Gesellschaft für das eigene Kind betrachtet. Es existiert eine Angst vor dem eigenen gesellschaftlichen Abstieg, die es vor zwanzig bis dreißig Jahren anscheinend so nicht gab. Rauchen gilt als "Unterschichtsphänomen"? Die Angst, mit einer Zigarette schlecht auszusehen, ist vermutlich für viele Raucher oder Ex-Raucher ein stärkerer Motivator zum Bruch mit der Gewohnheit als die Angst vor Lungenkrebs oder anderen Erkrankungen der Atemwege - davon einmal abgesehen, dass chronische Krankheit ebenfalls schnell zum sozialen Abstieg, zum sozialen Tod, führen kann.

Eine Ursache der Angst war und ist sicherlich die kontinuierlich steigende Arbeitslosigkeit seit den 1970ern. Die Hartz-4-Gesetze und die Art und Weise ihrer Umsetzung mögen der Zuversicht, man werde schon nicht "aus der Gesellschaft fallen", vielfach den Rest gegeben haben.

Vielleicht hilft das die Tatsache zu erklären, dass die öffentliche Antwort auf die sehr umfassende und völlig unberechenbare Überwachung, der wir uns heute gegenübersehen, so gedämpft ausfällt. Vielleicht ist das eine - nicht notwendig die einzige - Erklärung dafür, dass zwar viel über Missstände geschrieben wird, aber wenig darüber, wie ihnen abzuhelfen wäre. Viele Foristen, auch in der FC, scheinen sich und ihren Mitbürgern und Mitbürgern in dieser Hinsicht nicht viel zuzutrauen. Es liege an den "Strukturen", heißt es. Das Fußvolk verstehe zwar die Probleme, sei aber Empfänger, nicht Gestalter, politischer oder ökonomischer Entscheidungen.

Das stimmt. Passivität und Fatalismus aber sind gelernt. Sie sind Produkte von Erfahrungen, und sogar eines gesellschaftlichen Trainings. Vielleicht war die Bereitschaft, auch durchaus einmal negativ aufzufallen, eine Ausnahmeerscheinung zwischen den (dem Vernehmen nach) repressiven 1950er und 1960er Jahren und den erneut repressiven ersten knapp anderthalb Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts.

Allerdings sind Passivität und Fatalismus nicht der prägende Wesenszug des Normalverbrauchers an sich. Untereinander sind Bürgerinnen und Bürger durchaus bereit, einander auszustechen, einander zu dominieren und einander zu zeigen, "wo der Hammer hängt". Die Passivität bginnt erst da, wo die Art "Macht" beginnt, die der Normalverbraucher selbst im Regelfall nicht hat. Mir berichtete eine Mutter erst kürzlich voller stolz, wie sie einen armen Schlucker, dem sie gerade zum ersten Mal persönlich begegnet war, gedemütigt habe. Der Mann hatte den großen Fehler gemacht, ihr Kind - aus ihrer sehr subjektiven Sicht - in Gefahr gebracht zu haben. Soweit ich sie kenne, ist sie keineswegs ein Unmensch. In mancher Hinsicht ist sie wohl ein tragendes Element ihrer Nachbarschaft, ihrer lokalen Zivilgesellschaft.

Ich fragte mich, was ihre Mutter, die Großmutter des "gefährdeten" Kindes, sagen würde, wenn sie ihre längst erwachsene Tochter so reden gehört hätte. 'Würde bei der Großmutter genau der gleiche Instinkt zünden, weil es doch schließlich um ihr Enkelkind ging, oder gehörte sie einer Generation an, die es nicht nötig hatte, das an gesellschaftlich Schwächeren auszulassen?

Aber ich behielt die Frage für mich. Ich "teilte" sie nicht mit der Mutter, die immer noch stolz auf sich war, weil sie ihr Kind "geschützt" hatte. Ich hatte keinen Bock auf eine Auseinandersetzung, die wahrscheinlich niemandem genützt, mir aber ebenso wahrscheinlich einigen "unnötigen" Ärger eingebracht hätte.

Ich fragte mich am Abend, welche Schlüsse das Kind, das den peinlichen Vorgang ja miterlebt hatte, aus dem Gesehenen und Gehörten ziehen würde. Ich fragte mich, von wem mein Gegenüber es gelernt hatte, einem unbekannten Mitbürger sein Mitbürgertum in Wort und Tat abzusprechen. Und ich fragte mich, wann ich es "gelernt" hatte, solche Fragen nicht mehr laut zu stellen, an die Adresse, die sie am ehesten beantworten könnte.

So lange mich diese Frage beschäftigt, muss ich mich nicht fragen, warum ich mich über NSA oder Tempora nicht sonderlich aufrege.

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You're your own man, HuffPost, 17.06.13
Return conditions, BBC 28.06.13

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Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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