In der Wikipedia steht so ungefähr alles, was man über den Eiffelturm wissen muss. Es handelt sich um einen 324 Meter hohen Eisenfachwerkturm in Paris. Er steht im 7. Arrondissement auf dem Champ de Mars und wurde für die Pariser Weltausstellung von 1889 errichtet. Für drei Monate war er projektiert, daraus wurde Ewigkeit. Er wurde nie zurückgebaut, wie öfter gefordert, oder irgendwie modifiziert. Nur im Jahr 1900 wurde der inzwischen 68-jährige Erbauer Gustave Eiffel verpflichtet, seinen Turm nachts zu beleuchten. Bis zum Bau des Chrysler Building 1930 in New York war es das höchste Bauwerk der Welt.
Das Buch von Alexander Kluy nun ist für Leute, die noch ein bisschen mehr wissen wollen. Die etwas finden wollen, das überrascht, die Inspirat
e Inspiration beflügelt, an den Kopfschubladen rüttelt und am besten 200 Jahre europäischer Kultur- und Zeitgeschichte miterzählt. Der Reiseschriftsteller Kluy enttäuscht auch in dieser Hinsicht nicht, und da er außerdem leichtfüßig erzählen kann, wird der Dokumentar-Mix von Zeitzeugenerinnerungen, Fotos und Ausschnitten wie etwa jenem aus der Tageszeitung Le Figaro nicht zu schwer: Am Tag der Weltausstellung zählte der Reporter ganze 101 freudige Salutschüsse und beschrieb en détail das Outfit der Präsidentengattin Cardot, sowie sie dem Landauer entstiegen war.Prototypen von DisneylandEs herrscht fiebrige Anspannung in Paris, die französische Innenpolitik steckt im Chaos, Frankreich steht am Rande eines Putsches. Alexander Kluy braucht nur seinen Eiffelturm und die Exposition universelle de Paris de 1889, um die fragile Stimmung in Frankreich (und Europa) und den französischen Zeitgeist lebendig zu machen. Man bekommt eine Ahnung vom irrealen Pathos, das durch Europa rauschte, und von kolonialherrschaftlicher Selbstverständlichkeit: Bauchtänzerinnen, ein arabisches Café oder Ali Babas Höhle auf der Ausstellung wirken wie die ersten Prototypen von Disneyland.Wann zuletzt hat man sich die Abbildungen zu einem Text wirklich genauer angeschaut? Als erste Graphic Novel des Eiffelturms gilt zum Beispiel die faszinierend exotische Suite Les trente-six vues de la Tour Eiffel, die zwischen 1888 und 1902 entstand und die Japan-Mode der Impressionisten illustriert. Statt des verschneiten Fudschijamas wählte Henri Rivière als Kulisse etwas „durch und durch Technisches, Unnatürliches, Avantgardistisches“. Oder die symbolträchtigste aller Fotografien zum Turm mit Adolf Hitler davor in Siegerpose. Hitler ist auf diesem Foto genauso alt wie der Turm, genauso alt wie Charlie Chaplin, der im Jahr 1940 Der große Diktator drehte. Kaum eine Aufnahme wurde von der NS-Propaganda so oft verbreitet, erfährt man, das Foto erschien etwa auf dem Bildband mit dem launigen Titel Mit Hitler im Westen. Bizarrerweise brachte auch die New York Times die Aufnahme in ihrer Ausgabe vom 30. Juni 1940.So viele Zuschreibungen. „Der Eiffelturm hat nichts Geringeres zum Publikum als die Menschheit“, sagt etwa Hans Ulrich Gumbrecht. Überhaupt enthält Der Eiffelturm. Geschichte und Geschichten ein hervorragendes Glossar, so könnte man einfach nochmals zitieren, was schon Kluy zitiert hat: Der Eiffelturm ist eine Fantasie, ein Versprechen, ist Projektion, Projektor und Phantasmagorie, ist ein ikonografischer Kristallisationspunkt für die Spannungen und Widersprüche unserer Zeit, ist Brennspiegel scheinbar endloser, teils kurioser Konflikte, ist ein Signum der bedingungslosen und ungebrochenen Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts, Verkörperung eines kolonialen Hegemonen namens Frankreich, eine Gesellschaftsbiografie. Den Eiffelturm gibt es nicht. Aber um die Sprengung unserer eigenen Vorstellungskraft geht es Kluy natürlich nicht, es geht ihm darum, sich noch einmal vorzustellen, wie das berühmteste Architektursymbol der Welt die Vorstellungskraft der Menschen sprengte, die Imagination von Generationen prägte, beeinflusste, verstörte, kein anderes Bauwerk taucht – laut Kluy – im Kino öfter auf. Jacques Tati zeigt in seinem Film Tatis herrliche Zeiten den Eiffelturm in seinem futuristischen Paris ganze drei Mal, er setzt ihn ironisch in Szene, das erste Mal gespiegelt in einer Glastür.In seiner Zeit stand la Tour Eiffel auch als Sinnbild für kalten Größenwahn, für eine monströse Dystopie in immer rasanter werdenden Zeiten. Aus diesem Geist entstand dann eben auch ein Manifest gegen den Eiffelturm, denn gerade in Paris waren die stadtpolitischen Veränderungen Ende des 19. Jahrhunderts massiv und brachial – heute nennen wir es Gentrifizierung. „Im Zuge der „Haussmann’schen grands traveaus wurden nicht nur Viertel erschlossen, demoliert, neu gegliedert, durchlüftet und aufgewertet. Die Stadt putzte sich nunmehr heraus für das Zeitalter der Veräußerung, der prunkvollen Selbstdarstellung, der üppigen Schaufenster, der Herrschaft der Ware.“ Das kommt einem bekannt vor, das liest sich wie Kapitalismus- und Globalisierungskritik mit aus der Mode gekommenen Worten. Zu den Unterzeichnern gehörten damals keine Geringeren als die Schriftsteller Guy de Maupassant und Alexandre Dumas, der Komponist Charles Gounod und der Architekt der Pariser Oper, Charles Garnier. Der Dichter Sully Prudhomme distanzierte sich später, versöhnte sich mit dem Ungetüm, das in die fünfte Himmelrichtung zeigte, ins Weiter, Schneller, Höher: „Die Poesie scheint mir nämlich, ebenso wie die Musik, eine Kunstform zu sein, bei der die Form sozusagen nur der Schauder der Seele ist.“Man streift also durch den Text, um „im Sinne Siegfried Kracauers der gesellschaftlichen Funktion des Eiffelturms auf die Schliche zu kommen“ – und natürlich auch, weil man doch wieder einmal nach Paris fahren möchte.
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