The sunrise will be televised

China Horrorbilder aus China kursieren im Netz: ein Smog-verhangener Himmel – und eine künstliche Sonne auf dem Tiananmen Platz. Aber: Zeigen die Fotos überhaupt die Realität?
Ausgabe 04/2014

Das Photoshop-Dilemma ist ja eine der gemeinsten Neurosen der Gegenwart. Einerseits sind wir süchtig nach Bildern und baden in der Instagramisierung der Welt. Andererseits können wir nie sicher sein: Ist es „echt“, was wir da sehen? Betrachten wir einen Fetzen Realität? Oder einen gut gemachten Fake? Besonders fies verhält es sich mit den Fotos, die dieser Tage aus China ins Internet drängen, unter dem Schlagwort „Smog-Alarm“. Angeblich bilden sie die Realität ab. Aber sie sehen so unwirklich, so fremd, so apokalyptisch aus, dass wir ihnen lieber nicht trauen würden.

Da ist der Tiananmen-Platz in Peking: düster verhangen, irre unterbelichtet, fast erdrückt von einem graubraunen Himmel. Ein paar Fußgänger sind zu sehen, auf den ersten Blick wirken sie winterlich vermummt, auf den zweiten erkennt man Atemschutzmasken. Im Zentrum des Fotos: ein riesiger LED-Bildschirm, der mitten auf dem Platz steht und auf dem ein virtueller Sonnenaufgang rötlich leuchtet. Westliche Medien behaupteten sogleich, dass hier ein Naturerlebnis auf Staatskosten ausgestrahlt werde, um die Stimmungslage der von Luftverschmutzung gebeutelten Chinesen zu heben. Die real existierende Sonne ist bis auf Weiteres im Großraum Peking nämlich leider nicht zu sehen. Asiatische Medien konterten: Alles Quatsch! Der Sonnenaufgang sei immer nur für maximal zehn Sekunden auf dem Schirm aufgeflackert, als Teil einer Werbekampagne für die Tourismus-Region Shandong.

Fakt ist: Die Schadstoffkonzentration lag im Großraum Peking zuletzt um das Dreißigfache über dem Grenzwert, den die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Örtlich kann man derzeit kaum noch hundert Meter weit schauen. „Wie viel von Blade Runner ist Realität geworden?“, fragten europäische und amerikanische Blogger und Journalisten angesichts dieses chinesischen Horrors. Der legendäre Film von Ridley Scott spielt im Jahr 2019. Los Angeles leidet darin unter extremer Luftverpestung. 1982 kam Blade Runner in die Kinos – zehn Jahre, nachdem der Club of Rome seinen wegweisenden, bis heute aber weithin ignorierten Bericht „Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte.

Wie praktisch – für uns Westler –, dass China so kräftig aufs Wachstumspedal tritt. Und das mit spektakulären Bildern, die wunderbar von unseren eigenen Sauereien ablenken. Soeben haben kanadische Wissenschaftler eine Studie zur Erderwärmung veröffentlicht. China belegt demnach Platz 2 im Verursacher-Ranking, knapp hinter den USA und vor Russland. Bricht man die Zahlen aber auf die Einwohnerzahl herunter, auf den Pro-Kopf-Ausstoß von CO2, ändert sich das Bild: Die Chinesen rutschen auf den 19. Platz. Die Deutschen schaffen es mit ihren Megakühlschränken, Flatscreens und Schnellstarterautos locker auf Rang 5. Nur fehlen hierzulande die Bilder, um das drastisch zu illustrieren – noch ...

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Geschrieben von

Katja Kullmann

Stellvertretende Chefredakteurin

Katja Kullmann

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