Erinnerungen per Tweet

Alltagskommentar Auf Twitter sammeln viele gerade Sätze ihrer Kindheit, die man heute nicht mehr hört. Ein kleiner Spaß – und die Vergewisserung, dass man dieselbe Sprache spricht
Das Sandmännchen hatte früher eine feste Sendezeit, heute kann man's auch auf dem Computer schauen
Das Sandmännchen hatte früher eine feste Sendezeit, heute kann man's auch auf dem Computer schauen

Foto: Hubert Link/DPA

Früher war nicht alles besser und nicht alles schlechter. Früher war manches einfach anders. Früher sah man zum Beispiel Fernsehsendungen genau zu der Zeit, zu der sie liefen. Das Sandmännchen kam etwa um zehn vor sieben. Es kommt heute zwar immer noch um zehn vor sieben, aber erklären Sie heute mal einem fünfjährigen Kind um Punkt sieben, dass der Sandmann schon vorbei sei. Reaktion? "Dann gucken wir eben im Computer."

Wenn in 30 Jahren die heutigen Kinder Sätze aus ihrer Kindheit sammeln, die man dann, also in 30 Jahren, kaum noch hört, dürfte der folgende Satz jedenfalls dabei sein: "Das Sandmännchen ist schon rum." Es ist ein Satz aus den letzten Jahren des standardmäßig linearen Fernsehprogramms. Und er wird vielleicht die Türen eines ähnlich patinabesetzten Gefühlsspeichers aufstoßen wie die Sätze, die zurzeit unter dem Hashtag #sätzeunsererkindheit bei Twitter ausgetauscht werden.

"Das ist kein Ortstarif!"

Seit am Sonntag jemand damit anfing, sind hunderte Tweets zum Thema eingegangen, die meisten wohl von Leuten zwischen 25 und 50: „Das ist kein Ortstarif!“ – „Du bekommst noch viereckige Augen!“ – „Du bist zu Hause, wenn die Laternen angehen.“ – „Nicht den Kaugummi runterschlucken, davon klebt der Magen zusammen!“ – „Wie läufst du denn rum? So kriegst du später keinen Mann!“ – „Wenn du die Augen so verdrehst, bleiben sie stehen.“ – "Deutschland ist Weltmeister!" – „Will der Kleine eine Scheibe Wurst?“

Man wird mit jedem Tweet in die richtige Gehirnecke gestoßen, in der die jeweilige Erinnerung als Fetzen herumliegt, und ertappt sich prompt dabei, wie vor dem inneren Auge plötzlich die Kindheitsmetzgerei aufpoppt. Man taucht ein in eine Welt aus handcremeöliger Gelbwurstoberfläche. Man erinnert sich an den Schmerz, der kam, wenn die Laternen angingen, an verdrehte Augen, die nie stehen blieben, und Mädchen, die später keinen Mann, dafür vielleicht aber eine Frau bekamen. Man weiß: Ja, Kindheit, alte Nuss, das warst du. Und stellt fest: Die Kindheit vieler anderer war wohl auch so.

Die Konstituierung von Gemeinschaft

Es ist von hier kein weiter Weg mehr zur Vorstellung davon, wie sich größere Gemeinschaften konstituieren: Man wird, so ähnlich, wie es Benedict Anderson in Die Erfindung der Nation geschrieben hat, über gemeinsame Medien ein Teil von einer Menge von Menschen, die man nicht kennt. Man weiß von ihnen aber, dass sie, auch im übertragenen Sinn, dieselbe Sprache sprechen. Es wäre interessant zu wissen, ob in 30 Jahren unter den Kindheitssätzen, die man dann kaum noch hört, der ist: "Was in Brüssel geschieht, versteht doch eh kein Mensch."

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