...und Europa sagt: "Adiós, Merkel!"

Bundestagswahl SPD, Grüne und Linke stehen vor einer epochalen Chance, Europa aus der CDU-Knechtschaft zu erlösen. Es droht nichts weiter als die eigenen Versprechen einzulösen

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...und Europa sagt: "Adiós, Merkel!"

Foto: Sean Gallup/ AFP/ Getty Images

"Merkel no tiene mayoría absoluta: es posible un gobierno de izquierda para cambiar Europa“ („Merkel hat keine absolute Mehrheit: eine linke Regierung um Europa zu verändern ist möglich“) - diesen Blog-Eintrag hat mir am Montag nach der Bundestagswahl ein junger Spanier in einer etwas holprigen deutschen Übersetzung auf mein Facebook-Profil verlinkt.

In dem Artikel werden SPD, Grüne und Die Linke aufgefordert, ihre gemeinsame Mehrheit im Bundestag zu nutzen und Merkel abzulösen und mit ihr die Losung der absoluten Austeritätspolitik mit ihren so fatalen Folgen für die südeuropäischen Euro-Länder. Um das zu erreichen, fordert der Autor die europäischen Schwesterparteien auf, ihre Kollegen und Genossen in die Verantwortung zu nehmen: „Tun Sie es und erzeugen Sie Druck, die Geschichte liegt in Ihren Händen.“

Welchen Kurs die neue Bundesregierung einschlägt, bewegt Bürger aus unseren Nachbarländern offensichtlich mehr als die Wähler in Deutschland. Schon mehrere Monate vor der Wahl wurden EU-Abgeordnete angeschrieben mit der Botschaft „I also want to vote in Germany.“ Über die Kampagne „Electoral Rebelion“ wurden Wahl-Patenschaften ausgetauscht: Junge deutsche Wahlberechtigte schenkten ihre Stimme Südeuropäern, die fanden, dass es ihr demokratisches Recht sei, über ein Parlament zu wählen, das letztlich mehr Einfluss auf ihr Schicksal habe, als die Regierung im eigenen Land.

Diese Initiativen bieten einen guten Einblick in die Stimmung in unseren südlichen Nachbarländern und sie zeigen uns: Selten wurde in der EU so sehr und mit solch großer Spannung auf das Ergebnis einer Bundestagswahl geschaut.

Dafür gibt es eine ganze Reihe an Gründen: Zum einen liegen in Brüssel nahezu alle großen politischen Baustellen brach. Nicht erst seit den Wahlkampf-Monaten wurden aus Rücksicht auf die Unions-Wähler heiße Eisen nicht angetastet. Betroffen ist vor allem das Projekt der europäischen Bankenunion, d.h. der Aufbau einer schlagkräftigen europäischen Aufsicht, einheitliche Regeln zur Abwicklung von Kreditinstituten sowie eine gemeinsame Garantie von Einlegern europäischer Sparer. Weg von der Agenda gewischt wurden mit dem Verweis auf sensible Merkel-Anhänger auch Diskussionen über neue Rettungspakete, europäische Schuldtitel oder Investitionsprogramme schwache Euroländer.

Die Deutschen haben gewählt - „Endlich!“

Ob die Hoffnungen auf eine Aufweichung der reinen Austeritätsstrategie und neue konstruktive und solidarische Lösungsansätze nun im Einzelfall realistisch sind oder nicht - bereits die Verzögerung überfälliger Rettungspakete wirken für die betroffenen Länder demütigend und destabilisierend.
Nun liegen die Wahlen - aus Sicht unsere Partner „endlich“ - hinter uns. Die Frage, ob Deutschland - und damit derzeit eben auch die Europäische Union - in den kommenden Jahren von einer Unions-dominierten Bundesregierung oder einer Koalition links der Mitte geführt wird, dagegen liegt noch immer vor uns, auch wenn die SPD erste Weichenstellungen in Richtung einer großen Koalition unternommen hat. Große Koalition, Schwarz-Grün, Rot-Rot-Grün oder Minderheitsregierungen in verschiedenen Varianten - gleich welche Entscheidung die deutschen Parteien treffen, sie stehen vor einer Richtungsentscheidung, die über die Zukunft Europas entscheidet.

Wird die von der letzten Bundesregierung vorangetriebene Teilung der EU in Gläubiger- und Schuldnerstaaten weiter vorangetrieben und zementiert? Oder gelingt eine Umsteuerung der Krisenpolitik in Richtung einer auf sozialen Frieden und Wohlstand ausgerichteten EU? Hierzu wären weitere politische Integrationsschritte und die Einführung stabiler und wirksamer Ausgleichsinstrumente zwischen den höchst unterschiedlich entwickelten europäischen Regionen erforderlich. Die Regierung Merkel hat sich jeglichen Instrumenten, die dauerhafte und faire Entwicklungsperspektiven für die Krisenländer der EU böten, aufs bitterste verweigert: Trotz steigender Bedarfe an Fördermitteln hat Deutschland die Kürzung des EU-Haushalts bis 2020 durchgesetzt. Selbst über überfällige und wenig ambitionierte Instrumente wie die Einrichtung eines Schuldentilgungsfonds oder die Auflage gemeinsamer Schuldititel („Eurobonds“) verweigert Berlin bis zuletzt jede Debatte.

Die neue Bundesregierung muss für diese ungelösten Krisenherde zuallererst Diskussionen und Entscheidungsprozesse zulassen, die weder die Rechte des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente noch die Interessen der Partnerländer mit Füßen treten. Mit Merkel ist dies nicht möglich, eine derartige Kehrtwende um 180 Grad würde ihr in Athen, Lissabon oder Madrid niemand abnehmen.
Europa braucht einen Wechsel, aber Deutschland braucht ihn auch. Eine Bundesregierung links der Mehrheit - sei es als rot-rot-grüne Koalition oder als rot-grüne Minderheitsregierung mit linker Tolerierung - böte die Chance Projekte anzupacken, auf die eine große Mehrheit der Bundesbürger seit langem wartet: Die Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohnes, die Umstellung auf eine solidarische Bürgerversicherung und die Fortsetzung der Energiewende könnten die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland und der EU beeinflussen.

Drei Projekte mit einer Bundesregierung ohne Merkel

Unter Entscheidungsträgern in Europa setzt sich immer mehr die Einsicht durch, dass die zentrale, tiefer liegende Ursache hinter der Eurokrise in der stetigen Zunahme von wirtschaftlichen Ungleichgewichten innerhalb der Eurozone liegt. Während einige nordeuropäische Euroländer ihre Wettbewerbsposition verbessert haben - im Falle der Bundesrepublik nicht zuletzt dank einer massiven Senkung des Reallohnniveaus - und Jahr für Jahr größere Überschüsse an Exporten angehäuft haben, hat die Mehrheit der Euroländer volkswirtschaftlich an Konkurrenzfähigkeit verloren - nicht nur innerhalb der Währungszone, sondern durch die Aufwertung des Euro auch weltweit in dramatischem Maße. Im Frühjahr 2012 und 2013 hat selbst die EU-Kommission die Bundesregierung deshalb aufgefordert, über eine korrigierte Lohnpolitik die deutsche Binnenwirtschaft zu stärken, um das eigene Ungleichgewicht zwischen Ein- und Ausfuhren abzubauen.

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns durch die sozialdemokratisch-grün-linke Mehrheit der Bundestagsabgeordneten würde auch hier ansetzen. Die Bundesrepublik ist inzwischen das einzige EU-Land ohne Mindestlohn oder vergleichbare Schutzmechanismen gegen Lohndumping. Luxemburg hat ihn seit 1944, Frankreich seit 1950, andere Länder sind später nachgezogen wie Großbritannien 1999 oder Irland 2000. Aus gutem Grund, denn der Mindestlohn ist ein wirksames Mittel zur Bekämpfung individueller Armut. Staatliche Ausgaben zur Aufstockung von Hungerlöhnen oder der Finanzierung von Erwerbslosigkeit können reduziert werden. Auch die Binnenwirtschaft würde gestärkt, und die Nachfrage nach Gütern aus den europäischen Nachbarländern würde angekurbelt. Man darf die Bedeutung eines armutsfesten Mindestlohns in der Bundesrepublik nicht unterschätzen: Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in der Union. Kein Land in der EU hat für sich genommen ein vergleichbares Potenzial, das Wachstum in Europa anzukurbeln. Aber gegenwärtig ist Deutschland eben weder ein „Stabilitätsanker“ noch ein „Wachstumsmotor“, wie Merkel es im Wahlkampf immer wieder fälschlicherweise behauptet hatte!

Aber die Schnittmengen an Projekten, die die Mehrheit links von CDU/CSU jetzt umsetzen könnte, ist noch größer: Grüne, Sozialdemokraten und Linke sind im Wahlkampf für eine Bürgerversicherung eingetreten. Die Bürgerversicherung wäre ein Beitrag, um unsere sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren und zukunftsfähig zu machen und um das auf Bismarck zurückgehende System des Facharbeitersozialstaats endlich zu überwinden. In eine Bürgerversicherung wären eben nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern alle Bürgerinnen und Bürger als Einzahlende und als Nutznießer eingebunden.

Auch die Bürgerversicherung hat eine europäische Dimension, denn die Bundesrepublik würde einen weiteren, veralteten Sonderweg aufgeben und sich stattdessen an den moderneren sozialpolitischen Modellen Skandinaviens orientieren - und damit an jenen Ländern, die die größten Vorbehalte gegenüber der Harmonisierung der Sozialpolitik in der EU haben. Schweden, Dänemark und Finnland fürchten, über eine Harmonisierung auf den kleinsten europäischen Nenner Errungenschaften aufgeben zu müssen. Dies sollte verhindert werden, aber ein Problem der gegenwärtigen Konstruktion der EU ist eben auch, dass wirtschaftliche Freiheiten und Regeln zur Haushaltsdisziplin umfassend durch die EU-Verträge abgesichert sind, während Sozialstandards im Rennen um Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt kein gleichwertiger Schutz zukommt.

Bismarck überwinden und eine Tür für die Sozialunion öffnen...

Auch eine funktionierende Wirtschafts- und Währungsunion erfordert soziale Ausgleichsmechanismen. In der Krise kommen neue Probleme hinzu, auf die eine Lösung gefunden werden muss: Die am schlimmsten von der Krise betroffenen Länder drohen eine ganze Generation gut ausgebildeter junger Menschen zu verlieren, die ihre Zukunft in den Niederlanden, Brasilien oder Deutschland aufbauen. Der Staat in Griechenland, Portugal und Spanien hat viel investiert hat, um seinen Kindern eine gute Ausbildung zu finanzieren. Es wäre ein neuerlicher europäischer Skandal im Rahmen der Eurokrise, wenn die Wohlstandszentren der EU nun die Früchte dieser Investitionen der südeuropäischen Steuerzahler ernten, ohne einen eigenen, nachträglichen Beitrag zu leisten. Eine EU-weite Bürgerversicherung - oder mindestens eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung - wäre eine Variante, für mehr sozialen Ausgleich in der Union zu sorgen und gleichzeitig die Lücken zu füllen, die sich durch das Fehlern junger Einzahler in die Sozialversicherungen der Krisenländer in den kommenden Jahrzehnten auftun werden.

Die Einführung einer Bürgerversicherung in der Bundesrepublik könnte sich von Beginn an an europäischen Standards orientieren und eine wichtige Hürde für eine europäische Sozial- und Ausgleichsunion einreißen. Unter der Voraussetzung, dass eine Bürgerversicherung eine - umlagefinanzierte - Altersvorsorge mitumfassen würde, käme ein weiterer, auf die Zukunft gerichteter Nutzen hinzu: In der Diskussion um die Finanzkrise wurde von kritischen Experten darauf verwiesen, dass Finanzmarktstabilität letztlich nur durch eine „Gesundschrumpfung“ des globalen Finanzsektors zu erreichen sei. Gegenwärtig übersteigt die Menge der an den Märkten angelegten Vermögen (darunter zu einem großen Teil betriebliche oder privat angelegte Rentenbeiträge) sichere und zugleich Rendite versprechende Anlagemöglichkeiten um ein Vielfaches. Finanzblasen sind damit vorprogrammiert, denn langfristige Anlagen funktionieren nur, wenn ihre Rendite mindestens die Inflationsrate übertrifft.

Die Energiewende ist das dritte dringend überfällige Projekt, das seit dem 22. September wieder in den Bereich des Machbaren gerückt ist. Die Notwendigkeit der Energiewende steht außer Zweifel. Was in den vergangenen Jahren geleistet wurde, kann aber bestenfalls als ein Herantasten an diese Aufgabe verstanden werden.

Sozialdemokraten, Grüne und Linke stehen in der Pflicht ihrer Wähler, dieses Projekt ernsthaft umzusetzen ohne die sozialen Aspekte einer Energiewende auszublenden. Gleichzeitig muss der Widersinn beendet werden, die Energiewende alleine als nationales Projekt zu behandeln. Um der Klimakatastrophe zu begegnen braucht es Kooperation, damit Emissionen und Umweltrisiken nicht alleine ausgelagert werden.

Der ehrgeizige Ausbau der Solarenergie in Südeuropa und entsprechend leistungsfähiger Netze wäre nicht nur ein Beitrag zur Bekämpfung struktureller wirtschaftlicher Ungleichgewichte, sondern wäre auch ein wertvolles Element einer europäischen Energiewende. Ansätze dazu gibt es bereits: Die Europäische Investitionsbank (EIB) fördert entsprechende Projekte, doch der politische Ehrgeiz der Regierungen, darunter auch der bisherigen Bundesregierung, energiepolitisch stärker zu kooperieren, fehlte bislang.

Alternative Abgrund: Wie viele Jahre Merkel-Europa kann die Währungsunion noch verkraften?

Um Wachstum und Beschäftigung in Europa nachhaltig anzukurbeln und um die Widersprüche der europäischen Integration aufzulösen, mögen diese relativ kurzfristig umzusetzenden Projekte nicht genügen. Doch gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Alternative uns zu Rot-Rot-Grün droht. Was würde ein „Weiter so“ im Krisenmanagement à la Bundeskanzlerin Merkel bedeuten? Die bisherige Rolle der Bundesrepublik in der Krisenbearbeitung war verheerend (siehe auch: "Die vier Krisen des Euro" von Ulrike Hermann in le monde diplomatique http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/09/13.mondeText1.artikel,a0004.idx,0).

Die bisherige Antwort der Bundesregierung auf die Krise der Währungsunion bestand vor allem darin, Ländern, die finanzielle oder ökonomische Probleme haben, an die kurze Leine zu nehmen, und ihnen bis ins kleinste Detail vorzuschreiben, wie sie ihre Ausgaben senken sollten. Funktioniert haben diese Pläne allerdings nicht, die Schuldenstände Griechenlands und Portugals sind seit Aufnahme der Troika-Arbeit weit dramatischer angestiegen als zuvor. Die Bundesrepublik muss lernen, dass die Eurozone keine demokratisch zweifelhaften Straf- und Kontrollmechanismen braucht, sondern tragfähige ökonomische Konzepte.

Unabhängig vom Koalitionspartner würde sich eine erneut zur Kanzlerin gewählte Angela Merkel durch den Stimmenzuwachs ihrer Partei in der bisherigen Richtung ihres Krisenmanagements gestärkt sehen und munter weiter Richtung Abgrund marschieren. Diese Annahme wird durch eine Forschungsarbeit von Hubert Gabrisch bestätigt (Währung ohne Souveränität: Zur Ursache und Überwindung der Eurokrise, in: Leviathan 1/2013). Gabrisch hat unterschiedlichste internationale Versuche zum Aufbau von Währungsgemeinschaften untersucht. Ohne eine grundlegende Umkehr des Krisenmanagements und echte finanzielle Solidaritätsmechanismen zwischen den Partnern der Währungsunion wird der Euro - diesen Schluss muss man aus seiner Untersuchung ziehen - in absehbarer Zeit zusammenbrechen.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die im Bundestag handelnden Parteien links der Mitte eine enorme europapolitische Verantwortung. Das Wahlergebnis vom 22. September bietet ihnen dazu eine historische Chance. Die CDU steht ohne Koalitionspartner aus dem eigenen politischen Lager da. Sie stellt zwar die größte Fraktion im Bundestag, aber - und das kann man offensichtlich nicht oft genug wiederholen - sie hat keine Mehrheit! Und was würde es eigentlich für die deutsche Parteienlandschaft bedeuten, wenn die CDU nun wider Erwarten in der Opposition landen würde? Den Schlingerkurs, den Merkel als Kanzlerin gefahren ist, kann ein Oppositionsführer nicht gehen und es wäre auch kaum wahrscheinlich, dass Angela Merkel diese Rolle annehmen würde. Nur: Welche personellen Alternativen hat eine CDU im Jahr 2013? Eine führungslose CDU würde Rot-Rot-Grün seltene Freiräume schaffen, die für die Durchsetzung so wichtiger gesellschaftspolitischer Projekte genutzt werden könnten.

Auf welche Mehrheiten, auf welche Katastrophen will die gesellschaftliche Linke warten, bis sie sich traut, ihre Versprechen umzusetzen? Einziger Profiteur des Schadens, den eine Kanzlerin Merkel in den kommenden vier Jahren für die europäische Integration anrichten würde, wäre die neue rechtspopulistisch-national orientierte AfD. Die Spaltung des rechts-bürgerlichen Lagers vor dieser Wahl ist das historische Glück, das uns vor die Füße gefallen ist. Wir sollten uns nicht zu viel Zeit lassen, das zu verstehen.

In Zusammenarbeit mit Hanna Penzer
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

klute

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