Wir sind alle ein bisschen irre

Marotten Geteilte Beklopptheit ist halbe Beklopptheit. Wie eine Internetplattform die Macken der Online-User sozialisiert
Ausgabe 10/2014

Man kennt dieses Gefühl: Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Es dürfte sich auch bei demjenigen eingeschlichen haben, der folgende Nachricht im Netz hinterließ: „Jedes Mal wenn ich einen Thriller lese, muss ich mit dem Gesicht in Richtung Tür sitzen.“ Man wisse ja nie, „ob der Serienkiller nicht gerade in deinem Haus ist“, schrieb der oder die Unbekannte. „Wenn, will ich ihn wenigstens sehen.” Ein Anflug von Paranoia?

Seit diese Thriller-Beklemmung im Netz steht, weiß der oder die Unbekannte immerhin, dass es anderen Menschen ähnlich geht. Mehr als 30 Personen versicherten – anonym, aber öffentlich – an der gleichen Macke zu leiden, und zwar auf dem tumblr-Blog spleen.24. Vor rund zwei Monaten hat Christian Brandes das Portal ins Leben gerufen. „Geteilte Beklopptheit ist halbe Beklopptheit“ lautet das Motto. Und das hat offenbar Erfolg: Zu vielen merkwürdigen Verhaltensmustern haben sich schon mehrere Hundert Menschen bekannt. Auf Platz eins rangierte bei Redaktionsschluss dieser Tick: „Beim Einkaufen greife ich nie nach der ersten Verpackung im Regal. Es muss mindestens die zweite sein. Ich mag den Gedanken, dass jemand anderes bereits an meinem Duschgel gerochen hat, nicht.” 704 bekennende Bekloppte gaben an, ganz genauso zu denken.

Die passende Therapie liefert der Blogger gleich mit. Unter „Spleen heilen“ erfährt der Nutzer, was bei einer solchen Macke Abhilfe schaffen kann: Nichts! Die Seite zeigt ein Video eines Faultiers, unterlegt mit dem Song Take it easy. Und vielleicht ist das ja der Slogan für unsere Zeit – mittlerweile wird schließlich fast alles therapiert. Keine Lust auf Verantwortung? Klarer Fall des Peter-Pan-Syndroms! Wer fremdgeht, hat eine „Bindungsstörung“, und ein Kind, das gern tobt, hat natürlich ADHS. Oft warten wir gar nicht auf das Urteil eines Psychologen, sondern diagnostizieren uns gleich selbst.

Die Zahl psychisch bedingter Krankenhausaufenthalte hat sich seit 1990 um 65 Prozent erhöht. Es ist gut, dass wir psychische Störungen nicht mehr tabuisieren. Nur: Nicht jede Eigenart ist krankhaft. Nicht jede Schrulle gehört therapiert – dafür setzt Brandes ein Zeichen. Auf Facebook sähe man nur noch Astralwesen mit aufgeräumten Frühstückstischen, kritisiert er. Seine Seite ist ein „Nehmt das!“ für das Heer der ewigen Selbst-Optimierer, denn sie zeigt: Wir sind doch alle ein wenig irre.

Anmerkung der Redaktion: Fast wäre dieser Text nicht mehr fertig geworden. Die Autorin war damit beschäftigt, im Supermarkt alle Produkte so zu drehen, dass ihre Etiketten nach vorn zeigen.

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Geschrieben von

Lina Verschwele

Praktikantin des Freitag

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