1987 Erich Honecker besucht die Bundesrepublik. Mit seiner Rede in der alten saarländischen Heimat sorgt er für Verwunderung: Grenzen sollen nicht länger trennen
Am späten Nachmittag des 10. September 1987 hält Erich Honecker, 75-jähriger Partei- und Staatschef der DDR, Einkehr im Paradies. Gerade haben Wiebelskirchener Schalmeienbläser vor dem Bürgerhaus in seinem Heimatort Neunkirchen den „Steigermarsch“ geschmettert. Und als Geste für den Gast das „Lied vom kleinen Trompeter“ drangehängt, ein Arbeiterlied aus den zwanziger Jahren. Es gibt Glockengeläut, ein Spalier und Schwarz-Rot-Gold mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz. Ein alter Mann auf der Reise, jetzt scheint er angekommen. Sein innigster Herzenswunsch, für den er so lange beim Feind werben und beim Bruder kämpfen musste, hat sich erfüllt. Endlich findet er statt, Honeckers Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deu
Deutschland.Und dieser 10. September wird der persönlichste, emotionalste Tag dieser Reise. Heute ist Honecker nicht nur Staatsgast „auf Augenhöhe“, an diesem Tag stattet er seiner Heimat an der Saar einen Besuch ab. Er hat mit seiner Schwester in der Wiebelskirchener Wohnung Kaffee getrunken und im Garten hinterm Haus einen Apfel gepflückt, den er noch in der Hand hält, als er wieder geht. Er steht am Grab der Eltern und auf jener Straße, über die er einst paradierte, Honecker, der tapfere Trommler, inmitten seines roten Schalmeienzugs. Das war 1929, lang ist es her.„Fühlen Sie sich wie dehemm“, empfiehlt Oskar Lafontaine, der saarländische Ministerpräsident, tags zuvor, als die Maschine der Bundesluftwaffe in Saarbrücken gelandet ist. Und Honecker lacht: „Ja, wie dehemm.“ Und befolgt den Rat.Vereinende GrenzenDoch nun geschieht etwas Eigenartiges, was Honeckers Entourage in einige Aufregung stürzt. Im Saal des Neunkirchner Bürgerhauses, ergriffen von sich selbst, von Empfang und Emotionen und den Heimatdialekt im Ohr, breitet der Gast plötzlich die Arme aus und improvisiert. Der Mann, der kein „Prost“ aussprechen kann, ohne vom Zettel abzulesen, hält sich nicht an die mitgebrachte Rede. Er verschluckt sich auch nicht beim Sprechen, keine „Deutsch-Kratsch-Replik“ mehr und keine „Bunsrep-Schland“. Er scheint für einen Augenblick befreit. Oder verwirrt? Man könne es ja leider nicht ändern, sagt er, dass die beiden deutschen Staaten an Blöcke gebunden seien, die eine Grenze trennt. „Aber wir haben ja in Bonn ein Kommuniqué unterschrieben, und wenn alles, was da drinsteht, verwirklicht wird, dann wird auch der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern vereinen. So wie uns die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vereint.“Ein rhetorischer Mauerdurchbruch? Der vorweg genommene 9. November 1989? Ist gut zwei Jahre zuvor schon so viel im Fluss zwischen Ost und West, dass Grenzen mitgerissen werden wie Treibgut? Die Grenze zwischen der DDR und Polen ist zwar zu dem Zeitpunkt nicht mehr das, was sie mal war (der visafreie Reiseverkehr ist seit 1980 passé), aber immerhin, entlang der Demarkationslinie gibt es nur Schlagbäume und Grenzpfähle – weder Stacheldraht noch Minenfelder.Allerdings kann keine DDR, von wem auch immer regiert, im Herbst 1987 nach Gutdünken den Eisernen Vorhang lüften und damit den Bündnisführer UdSSR brüskieren. Ohnehin hat es zwischen Moskau und Ostberlin jahrelang Streit über Honeckers Westreise gegeben. Im August 1984 verhängt der kurzzeitige KPdSU-Generalsekretär Tschernenko ein kategorisches Reiseverbot, während Nachfolger Gorbatschow darauf besteht, Honecker müsse warten, bis er als neuer Parteichef in Bonn vorgesprochen habe. Letztlich fällt die Entscheidung über den brisanten Termin im März 1987 bei einem Vier-Augengespräch zwischen Honecker und dem damaligen Kanzleramtsminister Schäuble, der in Ostberlin ausrichtet: Kanzler Kohl würde sich sehr freuen, den DDR-Staatsvorsitzenden „recht bald“ in Bonn begrüßen zu können.Gemeinsam trotz ZweistaatlichkeitEs lässt sich heute schwer sagen, ob die SED-Führung seinerzeit ihre Westpolitik auch unter dem Eindruck betreibt, für die Sowjetunion Gorbatschows stehe die DDR als ihr Vorposten in Europa auf der Kippe. Die Annahme jedoch, Honecker habe ernsthaft eine Vertragsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten erwogen, wäre verfehlt. Die Zweistaatlichkeit auf deutschem Boden steht im September 1987 weder in Bonn noch in Ostberlin zur Disposition.Und doch verblüffen einige jahrzehntelang undenkbare Vorgänge. Sie sparen gar die von der SED immer als unantastbares Gut beschworene Ideologie nicht aus. Bevor am 7. September 1987 in Bonn ein Tambour-Major den Taktstock zur DDR-Hymne hebt, präsentieren am 27. August die SPD-Grundwertekommission und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED zusammen ihr Grundsatzpapier Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit. Es empfiehlt unter anderem, in beiden deutschen Gesellschaften über Vorzüge und Nachteile von Kapitalismus wie Sozialismus zu streiten. In Moskau wird schon das als „ideologische Abweichung“ gescholten. Einen Moment scheint es so, als käme nicht Honecker, sondern Gorbatschow zu spät.Auf Dialog folgt StagnationMan hat dieses Dokument später gern als Magna Charta einer DDR-Perestroika gedeutet, freilich ohne zu ergänzen, dass es weniger am sowjetischen Muster ausgerichtet ist als am Bedarf der DDR nach Perspektive. Und es handelt sich eben nur um ein Papier. Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften besitzt kein deutschlandpolitisches Mandat. Die seit dem Grundlagenvertrag von 1972 normalisierten Beziehungen gelten für Handel, Reiseverkehr, Infrastruktur, Umweltschutz und Kultur. Mit dem SED/SPD-Traktat geraten auf einmal Gesellschafts- und Wertvorstellungen in den Blick. Es regt sich die Hoffnung – zumindest bei den Menschen in der DDR, die ihrem Staat und der Partei überhaupt noch irgendetwas zutrauen –, der Dialog SED-SPD könne zu einem eigenen Reformdialog führen. Die Realität sieht anders aus. Die SED-Führung hat durch das Agreement mit der SPD auf Legitimationsgewinn nach außen gesetzt, will aber keinesfalls Identitäts- und Machtverlust im Inneren riskieren. So wird die Notbremse gezogen. Auf einen Sommer der Selbstüberwindung folgt ein Herbst des Missvergnügens. Nach dem Honecker-Besuch im Westen fallen die DDR und ihr erster Mann, der über alles und jedes allein entscheidet, in ein großes Loch der Stagnation und des Abwartens.Und das, obwohl die deutsch-deutschen Beziehungen nach den siebziger Jahren so etwas wie einen zweiten Frühling erleben: Man einigt sich über einen Stromverbund, plant eine modernisierte Bahntrasse Hannover-Berlin, nach dem Vorbild Eisenhüttenstadt-Saarlouis werden weitere Städtepartnerschaften geschlossen. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 1988 können fünf Millionen DDR-Bürger in die Bundesrepublik oder nach Westberlin reisen, davon 1,25 Millionen unterhalb des Rentenalters. Honecker ist vertragstreu nach außen, aber stur nach innen und gräbt sich damit selbst das Wasser ab. Als im September 1987 die Meinungsforscher des Dortmunder Forsa-Instituts erstmals 513 DDR-Bürgern telefonisch befragen dürfen, halten 71 Prozent eine Wiedervereinigung für wünschenswert. Diese Quote liegt knapp unter dem Ergebnis von 74 Prozent, das die ostdeutschen Wiedervereinigungsparteien CDU, DSU, Bund Freier Demokraten und SPD bei der Volkskammerwahl 1990 erzielen. Im Herbst ’87 haben viele Ostdeutsche der DDR zumindest gedanklich längst den Rücken gekehrt.Als der Entwurf des SED-SPD-Papiers Honecker im Juli 1987 vorgelegt wird, versieht der es mit dem Vermerk: „Einverstanden E.H., Dokument wäre von großer historischer Bedeutung, für Diskussion und Aktion der Arbeiterbewegung.“ Der Begriff Arbeiterbewegung – er gilt um diese Zeit mehr einer Fiktion als der Realität – zeigt, in welcher Welt sich der SED-Chef aufhält. In ihr zieht ein tapferer Trommler im Schalmeienzug dem Morgenrot entgegen. An einem Septembertag in Neunkirchen ist sie für Minuten zurückkehrt.
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