Cameron hat sich verrannt

EU-Gipfel 93 Stimmen aus zehn EU-Staaten werden gebraucht, um einen Kommissionspräsidenten Juncker zu verhindern. Die aber sind nicht in Sicht
Nicht in der EU, sondern in Großbritannien will David Cameron Eindruck schinden
Nicht in der EU, sondern in Großbritannien will David Cameron Eindruck schinden

Foto Facundo Arrizabalaga / AFP - Gety Images

Für eine Pro-Juncker-Entscheidung sind bei diesem Gipfel Absimmungsklauseln einzuhalten, die sich aus dem Vertrag von Nizza, geschlossen im Dezember 2000, ergeben (die entsprechenden Vorgaben des Lissabon-Vertrages greifen erst ab 2017). Das heißt, bei der Nominierung des künftigen Präsidenten der EU-Kommission wird eine Zwei-Drittel-Mehrheit unter den 28 Mitgliedsstaaten gebraucht, gestützt durch eine „qualifizierte Mehrheit“ bei den Stimmen, die jedes Land für sich vergeben kann.

Man muss dabei in Betracht ziehen, dass jedem EU-Mitglied in Abhängigkeit von der Größe seiner Bevölkerung bestimmte Quoten zuerkannt sind. Die Skala reicht von 29 Stimmen für Deutschland bis zu drei Stimmen für Maltas Premierminister Joseph Musca. Nach dem Beitritt Kroatiens am 1. Juli 2013 liegt das Quorum für eine bindende Majorität, eben die "qualifizierte Mehrheit", bei 260 von 352 Stimmen.

Brüchige Nein-Front

Folglich muss sich Premier David Cameron heftig anstrengen, jene 93 Stimmen zusammen zu bringen, die für eine Sperrminorität notwendig wären, um Jean-Claude Juncker zu verhindern. Er selbst kann für Großbritannien 29 Stimmen geltend machen und zu Recht darauf hoffen, dass sich Ungarn in der Person von Viktor Orbán mit seinen zwölf Stimmen anschließt, woraus sich 41 Gegenvoten ergeben würden. Blieben noch bisherige Juncker-Gegner wie Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt mit zehn und der niederländische Regierungschef Mark Rutte mit 13 Stimmen, um der Cameron-Fraktion ein Stimmenvolumen von dann 64 Stimmen zu schenken.

Es fehlen noch 29 Stimmen, für die sich nach Lage der Dinge am zweiten Gipfeltag in Brüssel kaum Spender finden lassen dürften – es sei denn, Italien mit seinen 29 Stimmen zieht mit. Doch da Matteo Renzi am 1. Juli für sein Land die Ratspräsidentschaft übernimmt, erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass er sich per Affront gegen einen Ehrenlegionär des europäischen Gemeinschaftswesens wie Luxemburgs Ex-Premier einführen will.

Italiens Premier würde sich als taktischer Stümper erweisen, geriete er doch unweigerlich in einen Konflikt mit der deutschen Kanzlerin. Dies wäre seinem Bemühen wenig zuträglich, geltende Euro-Stabilitätsdogmen aufzuweichen, um Italien und den erklärten Verbündeten Frankreich wieder auf einen ausgabenfreudigen Wachstumskurs zu schicken. Renzi will immerhin durchsetzen, dass staatliche Investitionen in Wachstum und Beschäftigung für eine gewisse Zeit nicht mehr auf das Budgetdefizit – also eine Neuverschuldung von unter drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) – angerechnet werden. Auch Deutschland hat zu Zeiten des rot-grünen Kabinetts von SPD-Kanzler Schröder für sich eine derartige Ausnahme reklamiert

Gesetzt den Fall, Renzi wollte Juncker trotzdem verhindern, dann wäre das mit 93 Gegenstimmen aus fünf Staaten nicht möglich. Es fehlt – so verlangt es das Prinzip der doppelten Mehrheit – die Sperrminorität von einem Drittel der EU-Staaten – bei 28 Mitgliedern müssen das zehn sein.

Britischer Binnenmarkt-Kommissar

David Cameron gibt also in Brüssel den Sisyphos mit seinem Juncker-Veto und findet sich zugleich in einer selbst gestellten argumentativen Falle wieder – der EU-Skeptiker hätte notgedrungen nach mehr kollektivem oder eben gemeinschaftlichem Rückhalt in der Staatenunion suchen müssen, statt einen Isolationismus zu pflegen, bei dem die Verbündeten ausbleiben, weil gar nicht um sie geworben wird.

Es dürfte dennoch so sein, dass es der britische Premier als Erfolg etikettiert, bei einer Personalentscheidung den Sonderstatus seines Landes in der EU demonstriert und Vorkehrungen getroffen zu haben, vor dem EU-Referendum 2017 (oder eher!) die Konditionen einer Mitgliedschaft neu auszuhandeln. Überdies scheint für die neue (Juncker-)Kommission ein britischer Binnenmarkt-Kommissar unvermeidlich zu sein. Bisher war das der Franzose Michel Barnier – man würde also nicht irgendwen aus dem Weg räumen, zumal auch der deutsche CDU-Politiker Günther Oettinger Ambitionen für diesen Posten geltend gemacht hat.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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